Mittwoch, 11. Dezember 2013

Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine Funktion in der Frühen Neuzeit

Dier kurze Text, stellt eine einführende Skizze meiner momentan Forschung dar und ist als solche zu lesen. Weder beanspruche ich hier Vollständigkeit, noch ist das als endgültiges Ergebnis anzusehen. Es ist vielmehr ein prozesshafter Ausschnitt, eine erste, einführende Bestandsaufnahme. Zitieren ist wie immer erlaubt, alles andere Bedarf meiner ausdrücklichen Zustimmung.
edit: Ich habe das alte paper rausgeworden und durch ne andere Version ersetzt, die nun viel allgemeiner eine meiner Forschungen beschreibt.

Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine Funktion in der Frühen Neuzeit

Emotionen und Räume sind in der Geschichtswissenschaft als Themen mittlerweile akzeptiert und etabliert. Zunehmend geraten diese aber nicht nur als Einzelthemen, sondern als Wechselbeziehung, in ihrer gemeinsamen Bedingt- und Verbundenheit und in ihrem konstruierten und wirklichkeitskonstruierenden Charakter in den Blick. Dies soll auch den Rahmen dieser Arbeit vorgeben.

Fühlen wird sozial erlernt und sozial abgesichert.1 Im gemeinsamen Fühlen bestätigt sich eine Gesellschaft als solche, wie auch ihre Werte und Weltkonstruktion. Fühlen schafft und erhält die je spezifische Wirklichkeit. Der Lern- und Kontrollprozess von Gefühlen findet zugleich nicht im „leeren Raum“ statt, sondern ist auch räumlich strukturiert. In und zu unterschiedlichen Räumen2 wird unterschiedlich Fühlen und dies kommunizieren erlernt, um die Räume in ihrer Bedeutung und Handlungsanweisung zu schaffen und zu bestätigen. Die Lebenswelt ist somit emotional kartografiert. Die Kontrolle dieser Prozesse ist dabei zugleich Machtinstrument und Ordnungsinstanz.
Wie das Fühlen sind auch Räume sozial erlernt. Diese sollen verstanden werden als Wahrnehmungs-, Handlungs- und damit Ordnungsstrukturen, die im engen Zusammenhang zu Emotionen, bzw. mit zu Gefühlen konzeptionalisierten Emotionen stehen. Der Raum ist hierbei sowohl raumanalytisch im Sinne Löws zu betrachten, also als relationale (An)Ordnung verschiedenster zentraler und peripherer Elemente, die einzeln und als Gesamtensemble mit Bedeutung versehen sind, als auch als Herum des Selbst, als „Container“ innerhalb der lebensweltlichen Wahrnehmung, die Denk-, Handlungs- aber auch Fühlmuster anzeigen. Sowohl die unbewusste Konstruktion, als auch der als bedeutungshaftes Ganzes wahrgenommene Raum müssen betrachtet werden, um das Gesamtphänomen erfassen zu können.

Emotionen und Gefühle sind räumlich bezogen und bedingt. Ebenso sind Räume durch Emotionen und Gefühle bedingt. Diese sind Teil des Raumes, an dessen Entstehung und Reproduktion beteiligt und Teil seiner Bedeutung innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Teile, die sie anzeigen. Aus dieser Bedingtheit ergibt sich nach ersten Überlegungen ein gegenseitig bezogenes Erlernen von Räumen und Gefühlen. Diese können somit als eine gemeinsame Struktur der Lebenswelt, der jeweiligen Wirklichkeit gedacht werden. Inwieweit dies zutreffend ist und es sich an konkreten Beispielen zeigt, gilt es im Zuge dieser Arbeit herauszufinden.

Ausgehend von der theoretischen Erarbeitung des Zusammenhangs von Raum und Emotion, nicht nur als jeweils eigenständige Strukturen der Wirklichkeit(en), sondern als gemeinsame, bezügliche Struktur, soll im Anschluss der Zusammenhang exemplarisch in seiner Funktion und Bedingtheit (und damit auch Nutzung) untersucht werden. Dafür sollen ausgewählte Räume, „alltägliche“, wie „außeralltägliche“ in ihrer Konstitution und Wahrnehmung, sowie vor allem in Bezug auf ihre emotionale Strukturierung, Schaffung und Bereitstellung von emotionalen Mustern, wie auch ihre Rolle in Bezug auf den Lernprozess von Gefühlen betrachtet werden. Ziel ist es, die Lebenswelt als emotional kartografiert, den gegenseitig bedingten Aneignungsprozess und die Funktion dieser Verbindung, vor allem im Sinne der Sozialdisziplinierung (in einem weiten Sinne) aber auch Devianz, spezifisch zu beleuchten. Zentrale Räume, bzw. Raumkomplexe sind dabei beispielhaft „die“ Schule, „der“ Kerker, „die“ Straße, zu denen im Laufe der Untersuchung weitere hinzukommen können.
Welche Modelle des Fühlens werden zur Bewältigung alltäglicher und außeralltäglicher räumlicher Situationen bereit gestellt, kultiviert und in Bezug auf diese erlernt und wie schaffen diese die Räume mit? Gibt es dabei situations-, milieu- oder schichtspezifische, konkurrierende Konzepte und Normen und damit eventuell zusammenhängende Identitäten. Mit anderen Worten, folgt aus der spezifischen emotionalen Bewältigung und Aneignung räumlicher Situationen, bzw. dem Erlernen unterschiedlicher emotionaler Konzepte in und zu Räumen eine spezifische Rolle oder gar Wirklichkeit, die nicht nur unterschiedliche Räume und Gefühle, sondern auch unterschiedliche Zusammenhänge produziert? Oder umgekehrt, bieten spezifische Rollen spezifische (emotionale) Wirklichkeiten und emotionale Muster an, die zur Bewältigung angeeignet werden können? Was bedeutet das raumbezogene Erlernen von Gefühlen für beide Strukturen? Wird und wenn ja, wie, dieser Zusammenhang aktiv genutzt?
Erste Anzeichen für eine aktive Aneignung von Rollen in Form und durch spezifische räumlich-emotionale Muster liefert die Betrachtung „des“ Kerkers, in welchem mit zugeschriebener, bzw. normativ verlangter Gefühle verbundene Wirklichkeiten mit anderen, aus der räumlichen Situation sich ergebenen, vor allem auch emotionalen Rollen konterkariert werden (können), die in Bezug auf den Raum normiert und erlernt und in seinem Erleben angewendet und je unterschiedlich spezifisch angeeignet werden. Auf diese Weise existiert nicht eine emotional kartografierte Welt, sondern spezifische Welten in und mit Hilfe verschiedener Identitäten.

Um diesen Zusammenhang und seine Funktionen, bzw. Wirkungen zu untersuchen, ist es nötig, die Räume in ihrer Konstitution und ihrem Erleben zu untersuchen. Ebenso müssen die jeweiligen Gefühle, ihrer Norm nach aber auch in ihrem kommunizierten Erleben betrachtet werden. Welche Gefühle tauchen in und zu den jeweiligen Räumen auf, wie werden diese (raumbezüglich) erlernt, angeeignet, eingeübt und kommuniziert. Hängen diese mit spezifischen Rollen zusammen? Es gilt also sowohl normative Quellen im weitesten Sinne, also wissenschaftliche Literatur, Policeygesetzgebung, Ratgeber usw. zu analysieren, wie vor allem auch Selbstzeugnisse, die das Erleben in erlernten Bahnen spiegeln. Dabei sind in letzterem jedoch die kommunizierten Gefühle nicht (automatisch) als tatsächlich empfunden zu denken, sondern vor allem als Kommunikationsmittel zu betrachten, als Begründungen und Erklärungen für konformes oder nonkonformes Handeln oder als Mittel der Bedeutungsübertragung, bzw. Wirklichkeitsanpassung, sowie als Mittel der Durchsetzung der eigenen Sichtweise (so kann Mitleid erweckt werden, um die eigene Position bei den Lesern zu verändern, bzw. Eigen- und Fremdbild anzupassen oder den Wahrheitsanspruch zu unterstreichen).
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Gefühle vor allem in ihrer Wirkung auf das Denken und Handeln zu betrachten. Wo es nötig wird, ist zudem eine metasprachliche Untersuchung der Gefühle nötig, um besonders in Fällen gleicher oder ähnlicher Vokabeln nicht gegenwärtige Bedeutungen, Inhalte und Handlungskonsequenzen in diese hinein zu transportieren und so das Ergebnis zu verfälschen, bzw. zu „verunzeitigen“. Gleiches gilt für die jeweiligen Räume, die trotz gleichem oder ähnlichem Namen anders konstituiert sein können. Dies gilt in beiden Fällen auch für zeitgenössisch verschiedene Ausprägungen, die durch verschiedene Milieus bestimmt sind.
Zur Beschränkung des Umfangs soll die Arbeit auf schriftliche Zeugnisse fokussieren und allenfalls ergänzend bildliche Quellen hinzu ziehen. Eine dezidierte Analyse von Bildquellen muss zum jetzigen Standpunkt weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Auf diese Weise soll sich ein freilich unvollständiges Bild der emotional kartografierten Lebenswelt ergeben, der historischen Zusammenhänge von Raum und Gefühl in der gemeinsamen Aneignung und der diesem Prozess zugewiesenen Funktion und lebensweltlichen Wirkung, basierend auf den theoretischen Vorüberlegungen, die selbstredend aktuelle Forschungen rezipieren müssen.
Die Arbeit geht damit einen doppelten Weg. Zum Einen soll anhand neuester Forschung der Zusammenhang von Emotion und Raum als gemeinsames strukturbildendes Merkmal untersucht werden und zum Anderen soll anhand der sich daraus ergebenden Frage, dem sich ergebenden „Brennglas“, die frühneuzeitliche Welt in Bezug auf die konkrete Ausprägung und konkrete Zusammenhänge betrachtet werden.
Die Arbeit will einen Beitrag zum Verstehen des Zusammenhangs von Emotion und Raum beitragen, sowie die emotionale Kartografierung, so und wie sie sich fassen lässt, in ersten Zügen beispielhaft erfassen.
1Vgl. dazu u.a. Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850) (Bielefeld: transcript, 2013), insbesondere 106f, sowie generell Christian von Scheve, Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung (Frankfurt am Main/New York: Campus 2009). Beide Arbeiten sind für diese Untersuchung von großem Wert.
2Das hier vertretene Raumkonzept basiert zum großen Teil aus Weiterführungen von raumsoziologischen Ansätzen wie jenen Martina Löws, als auch phänomenologischen. In dieser Hinsicht ist die Ebene der Konstruktion von Räumen, die weitgehend unbewusst abläuft, von jenen der Raumerfahrung in der alltäglichen Lebenswelt zu unterscheiden und muss für die Untersuchung grundsätzlich beachtet werden. Prinzipiell sind Räume als soziale Ordnungssysteme und Handlungsmuster zu verstehen, die nur in der Wahrnehmung als Ganzes und Gegebenes (bzw. fraglos Gegebenes) erscheinen, in der Konstitution aber aus verschiedenen Elemente zusammengesetzt sind und die jeweils einzeln als auch als Ganzes mit Sinn und Handlungsanweisungen belegt sind. Vgl. dazu Martina Löw, Raumsoziologie (Franfurt am Main: Suhrkamp, 2001), sowie Sebastian Ernst, „Inueni portam spes et fortuna valete!“. Der Hafen als kulturelles Konstrukt in der Frühen Neuzeit (Potsdam: unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Potsdam), 11ff.

Montag, 2. Dezember 2013

Gibt es gestalterisches Forschen? Eine Annäherung

Diese Frage geht zurück auf eine Ringvorlesung an der BTK in Berlin, die mich zugleich inspirierte, selbst dieser Frage in einer Verdeutlichung nachzugehen. Es geht dabei nicht darum, sie zu beantworten, zumindest nicht zur Gänze, sondern sich der Antwort fragend zu nähern und einige, aus meiner Sicht zu beachtende Aspekte zu verdeutlichen.

Bei näherem Hinsehen zerfällt diese Frage in mehrere, die sich nach unterschiedlichen Begriffen ausrichten, so ist von „Kunst“, „Gestaltung“, wie auch „Design“ die Rede, die jeweils nicht bedeutungsgleich gelesen werden können, ein Problem, dass später noch zum Tragen kommen wird.
Ich will mich dieser Frage, ohne eine umfangreiche vergleichende Begriffsklärung anzustrengen, in ihrer jeweiligen durch die Begriffe bestimmten Eigenheiten nähern.

1. Gibt es gestalterisches Forschen?

Diese Frage ist von allen die am einfachsten zu beantwortende. Mit dem Begriff der Gestaltung wird ein „kreativer Schaffensprozess, bei welchem durch die Arbeit des Gestaltenden eine Sache [...] verändert wird, d. h. erstellt, modifiziert oder entwickelt wird und dadurch eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Erscheinungsbild verliehen bekommt oder annimmt“ gemeint. Bei wikipedia wird dabei zwischen zwei Bedeutungen unterschieden. Zum Einen bezeichnet Gestaltung „einen bewussten Eingriff in die Umwelt mit dem Ziel, diese in eine bestimmte Richtung zu verändern.“ Zum Anderen ist Gestaltung die „bewusste, verändernde Einflussnahme auf die ästhetische Erscheinung von Dingen oder Zusammenhängen, also auf unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Phänomene (wie Räumen, Objekten, Handlungen, Bewegung usw.). Beispiele sind die Bereiche der Musik, sowie die verschiedenen Designbereiche als Gestaltung von Produkten, Grafik, Mode, Architektur usw. oder die individuelle Körpergestaltung oder Umfeldgestaltung.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Gestaltung, letzter Zugriff 02.12.2013, 12:03.)

So klar diese Trennung scheint, so wenig ist sie praktisch gegeben, denn jede, nennen wir sie „ästhetische Gestaltung“, ist zugleich Gestaltung in eine bestimmte Richtung innerhalb des Rahmens aus Selbst- und Weltkonstruktion von Akteuren und Gesellschaften. Die „angemessene Formfindung“ als Inhalt des Begriffs innerhalb der zweiten Ebene, wie er scheinbar im Kontext des Designs gebraucht wird ist zwar oberflächlich betrachtet ein bewusster Prozesse aber auch er folgt Phänomenen, die man mit „Zeitgeist“, „Kultur“, „Identität“ bezeichnen könnte.

Um sich der Frage nun weiter zu nähern, ist zwischen weiteren Bedeutungen zu unterscheiden. So kann „gestalterisches Forschen“ den Begriff der Forschung fokussieren, als auch den Begriff des Gestaltens. Zu erst soll die erste Bedeutung betrachtet werden, da diese erneut einfacher zu beantworten ist. Die zweite Bedeutung soll entsprechend umformuliert werden im Sinne des „Forschens mit gestalterischen Mitteln“ oder anders „Design als Wissenschaft“.

Die erste Frage kann nun leicht beantwortet werden, denn Forschen ist immer gestalterisch. Erforschen wir Vergangenheit, gestalten wir sie zu Geschichte, die ihrerseits bestimmten Rahmenbedingungen und Deutungen unterliegt. Aus Vergangenheit wird Geschichte gemacht. Das jeweils Denk- und Interpretationspotential, dass zur Gestaltung genutzt werden kann, ist durch kulturelle, institutionelle und soziale Determinanten vorgegeben.
Was für die Geschichtswissenschaft gilt, gilt jedoch für alle Wissenschaften und ist wechselseitig zu denken. Wissenschaftlicher Erkenntnisse werden gestaltet, durch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, durch institutionelle Besonder- und Gegebenheiten aber sie gestalten auch diese um. Bereits die Übersetzung in eine Sprache, das Denken in Sprache, ja selbst der Blick auf die Untersuchung und ihre Ergebnisse, die Themenauswahl und Methodenwahl sind Mittel der Gestaltung und daher auch in jedem wissenschaftlichen Arbeiten, neben weiteren Aspekten wie der kulturellen Rahmung, Identität und Motivation als verändernde oder in diesem Sinne gestaltende Momente zu beachten. Gibt es also in diesem Sinne „gestalterisches Forschen“? Die Antwort muss „ja“ lauten.

Im Zusammenhang mit dieser Bedeutungsebene steht ein weiterer Aspekt, der nicht zuletzt durch das Ringen um eigenständige Bedeutung in bestehenden Hierarchisierungen und Anerkennungsmechanismen steht: der Kampf des Designs um einen eigenständigen Wert, der sich in der später zu klärenden Frage nach Design als eigener Wissenschaft spiegelt, in der sich das Design von der Marginalisierung als bloße „Hilfsarbeit“ der Wissenschaften zu lösen wünscht. Das Aufwertungsbestreben bezieht sich dabei auch gleichzeitig auf diese „Hilfstätigkeit“ im Ringen um Anerkennung. Dabei birgt eine solche Verwendung (weiterer!) gestalterischer Mittel sowohl Gefahren, als auch Potential zur eigenen Neuverortung und Anerkennung.
In einer Welt der stärkeren „Demokratisierung von Wissen“ (ausdrücklich ist hier auf den Unterschied zwischen „Wissen“ und „Bildung“ zu verweisen, auf den hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann) und des Kampfes auch um monetäre Anerkennung und damit Fortbestehen ganzer Wissenschaftszweige verstärkt sich der Druck nach breitenwirksamer Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dabei ist diese Streben insofern positiv, als dass es die Instrumentalisierung des Wissens durch Interessengruppen verringern kann, da die Vermittlung zugleich durch die Forscher selbst „überwacht“ werden kann und insofern es, so das Wissen im Rahmen einer Bildung verwendet wird, einem wichtigen Ziel folgen kann.
Aufgrund dessen kann hier für das Design Anerkennung generiert werden, die jedoch mit Vorsicht und mit eigener starker Theoriearbeit und Reflektion seitens des Designs versehen sein sollte. Die in diesem Sinne „massentaugliche“ Gestaltung der Ergebnisse ist dabei als Übersetzung zu konzeptionalisieren. Viel wenig beachtet scheint mir dabei die Problematik einer Übersetzung. Bei jeder Übersetzung (selbst innerhalb der Kommunikation zwei scheinbar die gleiche Sprache Sprechender) kommt es zu Bedeutungsverschiebungen, die in diesem Falle durch eine geforderte Komplexitätsreduktion begleitet werden. Was bei einer Übersetzung geschieht ist eben nicht eine 1:1 Umwandlung, sondern eine Umwandlung, die zugleich eine Verwandlung ist, neue Bedeutungen vermittelt, manche fokussiert, manche nicht. Dies zu beachten und kritisch aufzuarbeiten könnte ein wirklich wichtiger theoretischer Beitrag des Designs für Wissenschaft und Bildung sein. Freilich kann und muss das Design dabei auf Erkenntnisse der Kulturwissenschaften, Psychologie, (Wissens)Soziologie, Philosophie und der Neurowissenschaften zurückgreifen, kann sie jedoch speziell auf ihr Aufgabengebiet hin ausrichten und erweitern.
Zum Abschluss dieses Bereichs sei noch kurz auf einen weiteren Aspekt hingewiesen. Die Übersetzbarkeit gilt nicht nur in Richtung der Massentauglichkeit, sondern auch in Richtung des Verstehens seitens der Wissenschaftler selbst. So kann die gestalterische, vor allem grafische Übersetzung neue Perspektiven eröffnen und über ihre Bedeutungsverschiebung und Fokussierung zugleich den Erkenntnisgewinn positiv beeinflussen.

Sowohl Gefahren als auch Wert liegen hier also eng beieinander und das Bedürfnis nach Anerkennung sollte vor allem ersteres nicht überblenden.

Der nächste Abschnitt wird der Frage nach künstlerischem Forschen und Design als Wissenschaft gewidmet sein.

Sonntag, 1. Dezember 2013

Erlebbare Geschichte - erste Gedanken zu Hintergründen und zentralen Kategorien

Vergangenheit hat Konjunktur. Freilich gilt dies nachwievor nicht für den Geschichtsunterricht, der eher mit Kürzungen von staatlicher Seite und der Langeweile, die er bei den Schülern immer nochhervorruft, zu kämpfen hat. Das Interesse an Geschichte zeigt sich an anderen Stellen. So erfreut
sich eine bestimmte Form (oder eigentlich genauer bestimmte Formen) der Beschäftigung mit Geschichte als Hobby seit den 1970er Jahren eines bemerkenswerten Aufschwungs. Die Rede ist von Living History (im Deutschen oft als "Erlebbare Geschichte" übersetzt), Reeactment und Reenlarpment und ihren verschiedenen Ausprägungen und Interpretationen, die wohl die wichtigsten Spielarten der Beschäftigung, Aneignung und Vermittlung von Geschichte in darstellender Form durch Laien beschreiben. Trotz ihrer Verschiedenheit, sowohl untereinander, als auch innerhalb ihrer Definitionen, handelt es sich dabei um Formen der erlebnisorientierten, sinnlichen, affektorientierten und performativen Aneignung und Vermittlung. Die so entstehende Geschichtskultur beansprucht zudem von ihren Akteuren eine spezifische, jedoch ernsthafte und quellenorientierte Beschäftigung und Aufarbeitung historischer Sachverhalte. Dabei existiert allerdings eine große Bandbreite an qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen, basierend vor allem auf gegenseitigen Bewertungen aufgrund unterschiedlicher Wertmaßstäbe und Definitionen von "Authentizität", sowohl des Dargestellten, als auch zum Teil des Erlebten, des direkten Erfahrens bestimmter Kulturtechniken und Anwendungen, dem historischer Erkenntniswert zugesprochen wird.
Ein wichtiges, gemeinsames Merkmal dieser Formen ist, dass es sich dabei um eine Beschäftigung außerhalb "klassischer" institutionalisierter Bildungseinrichtung handelt. Allerdings bedienen sich auch diese "klassischen", anerkannten Institutionen historischer Forschung und Vermittlung zunehmend dieser Formen, um einem anscheinend recht breiten Interesse an erlebnisorientierter Vermittlung von Geschichte gerecht zu werden. Je nach Fokus der einzelnen darstellenden Akteure ergibt sich daraus eine mehr oder weniger starke Wechselwirkung, die sich jedoch vor allem auf einen bestimmten Teil der "Szene" beschränkt, der sich nach eigenen Maßstäben als besonders engagiert und wissenschaftlich arbeitend definiert.
Auf all diese Unterschiede müssen Untersuchungen zwingend achten, denn genau genommen handelt es sich um mehrere Hobbys und nicht um eins. Dies zu ignorieren würde zwangsläufig zu falschen Einschätzungen führen.
Das wachsende Interesse sowohl von Seiten der Darsteller, als auch von Seiten der Rezipienten an diesen spezifischen Formen ist nun Grund genug, sich eingehender mit diesem Phänomen zu befassen.
Nicht zuletzt aufgrund meines eigenen Engagements und meiner "Zwischenrolle" als Living History-Akteur und Historiker, gilt mein Interesse diesem Phänomenbereich. Mein Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Hintergründen, Grundlagen, Geschlechter- und Rollenkonstruktionen, den Motivationen und der Ausarbeitung einer geeigneten Didaktik "Erlebbarer Geschichte" unter der Neuen Kulturgeschichte als Leitdisziplin.
Im Laufe der Zeit werde ich einige Auszüge meiner Beschäftigung mit diesen Themen hier veröffentlichen. Den Anfang macht eine kurze Auseinandersetzung mit den Hintergründen dieses "Hobbys", sowie mit einer der Kernkategorien dieser Vermittlungs- und Beschäftigungsform mit zu Geschichte(n) verdichteter Vergangenheit.

Erlebbare Geschichte als bedürfnisorientierte Aneignung von Vergangenheit

Aneignung von Vergangenheit als Geschichte oder besser, als sinnlich erlebbarer Geschichte bedient und über ein Sendungsbewusstsein die Ergebnisse dieser Aneignung weitergeben wollen.
Diese Formen der Aneignung sollen als "subkulturelle Kolonialisierung (scheinbar) brachliegender Sinnprovinzen" verstanden werden.* Sie erfüllen damit ein Bedürfnis nach Deutung von Vergangenheit, die auf anderem Wege scheinbar nicht oder unzureichend vorgenommen und oder vermittelt wird, sowie den Bedürfnissen, Sehnsüchten und Vorstellungen der sich dieser Formen Bedienenden und deren Rezipienten nicht gerecht zu werden scheint.
Was ist damit gemeint? Wie kommt es zu dieser Form der Aneignung, was sind deren Bedingungen und Triebkräfte? Im Folgenden sollen einiger erste Thesen vorgestellt werden.

Allen kulturellen Wesen zu eigen, ist das Bedürfnis, die Welt und ihre Erscheinungen mittels Symbolsystemen sinnhaft zu deuten und damit zugleich der Sinnlosigkeit und des Chaos zu entgehen. Diese Deutungen sind zudem Ressourcen für das Selbst- und Weltbild, für Identitäten, Gewissheiten und damit Sicherheit, sie machen überhaupt erst handlungsfähig, in dem sie oftmals schwer fassbare Kausalketten begreifbar machen oder jene imaginär erschaffen. Deutungen sorgen zudem dafür, Sehnsüchte und Bedürfnisse in die scheinbar natürliche Welt zu integrieren und damit legitimieren zu können.
Die Deutung von Vergangenheit ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vergangenheit wird immer in Form von sinnhaften Erzählungen vermittelt und erst so zur Geschichte. Diese wiederum is sowohl Quelle für Identitäten, politische, religiöse und soziale Legitimation, Philosophien und kann selbst Entwürfe der Zukunft in sich tragen.
Nach dieser Sichtweise sagt uns Geschichte wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen (sollen).
Zumindest sind dies scheinbar Ansprüche, die besonders außerhalb akademischer Beschäftigung (nicht zuletzt auch seitens der Politik) an diese gestellt werden und die besonders in älteren Geschichtsphilosophien und ihren Großen Erzählungen zu Tage treten.
Der Reiz dieser Erzählungen in der Rezeption liegt vor allem darin, dass sie leicht anzueignen sind und eine einfache (Ein)Ordnung in und von der Welt erlauben. In zunehmenden Maße wurden diese doch besonders in der akademischen Welt verdrängt und durch komplexere Kontruktionen von Geschichte ersetzt.
Diese einfacher zu rezipierenden Erzählungen als Geschichte sind für viele heutige Darsteller auch die erste Erfahrung im intensiveren Umgang mit Geschichte (die über die eigene hinaus geht), da diese oftmals immer noch in der Schule gelehrt werden. Auf diesem Wege werden bestimmte Formen der Strukturierung von Geschichte und deren Aneignung erlernt die außerhalb akademischer Geschichtswissenschaft selten überwunden werden.
Zwar werden gerade die Bereiche, mit denen sich die hier untersuchte Kategorie darstellender Geschichtsinterpretation beschäftigt noch immer in der Schule vernachlässigt, jedoch besteht die sehr reale Gefahr, auch an neue Themen und deren Erarbeitung die erlernten Strukturierungen und Interpretationen anzuwenden.
Die starke persönliche Identifikation bietende Alltagsgeschichte, in denen sich die meisten Darstellungen abspielen (wollen) werden so unter genau diesem Aspekt angeeignet, als sinnhafte, große Erzählung, die auf bestimmte, noch zu untersuchende Punkte fokussiert und die Aneignung von Geschichte als Möglichkeit der Identitätsfindung nutzt, bei gleichzeitiger Offenheit für Sehnsüchte und Bedürfnisse. Dieser Raum ergibt sich dabei aus der Vernachlässigung dieser Themenbereiche und so weitaus offener für Deutungen außerhalb der Fachwissenschaft scheinen. Die wenig spannende Geschichte, die lange auf Politik- und Wirtschafts-, teils auf Ideen- und wenig auf Sozialgeschichte setzte, jedoch durch große sinnhafte Erzählungen die Identitätsstiftung beförderte und so Geschichte nicht selten auch vereinfachte (wohl auch zu sehr vereinfachte oder besser vereinheitlichte), konnte sich so einerseits als erlerntes Ideal wie Geschichten zu konstruieren seien setzen, als auch Raum lassen, um sich brachliegenden Bereichen zu widmen, die ungleich spannender erschienen.
Zwar bricht die Neue Kulturgeschichte, die auch langsam Einzug in den Unterricht an Schulen hält, mit vielen dieser Erzählungen alten Typs, sie verkompliziert Geschichte jedoch scheinbar und tatsächlich und stattet sie mit einer größeren deuterischen Vielheit aus, die in der wissenschaftsfremden Rezeption bis zur Willkür erscheint. Damit verliert sie nicht nur scheinbar an Legitimität und ihres Deutungsmonopols, sondern sie öffnet aufgrund ihrer schweren Verständlichkeit alternativen Deutungen die Möglichkeit, sich festzusetzen. Besonders letztere vermögen Sehnsüchte, wie auch Bedürfnisse nach Einfachheit, Sicherheit und Identität besser zu erfüllen. Gerade der Wegfall “großer, einheitlicher, sinnvoller Erzählungen”, die relativ leicht Identitäten erlauben, Sinn und Ziel geben und nicht zuletzt vergleichbar “leicht” anzueignen sind, hat eine große Lücke hinterlassen. Die fortwährende Dekonstruktion der Sicherheit und Gewissheit versprechenden Erzählungen in der postmodernen Wissenschaft ohne die Vermittlung neuer Identitätsschablonen, hat für große Verunsicherungen gesorgt, für eben jenes scheinbare Chaos, dem zu entgehen kulturelle Wesen bestrebt sind.
Die Ablehnung der Fachwissenschaft ist jedoch ebenso bei den Akteuren zu sehen, die für sich einen hohen Grad an Quellenorientierung, Authentizität und wissenschaftliche Methodik beanspruchen. Dabei geht diese Ablehnung jedoch über jene weniger auf diese Werte setzende Akteure hinaus. Dies gilt jedoch vor allem für die Geschichtswissenschaft, die einen anderen Status als die Archäologie einzunehmen scheint. Letztere ist dabei eher als die Leitwissenschaft vieler Living History Ansätze zu betrachten. Die Geschichtswissenschaft wir hierbei nicht nur aufgrund ihrer Komplexität und Dekonstruktionsleistung abgelehnt, sondern auch, um die eigene Expertise zu legitimieren. Dazu trägt die oft latente bis offene Fixierung auf Sachkultur (im Gegensatz zur Materiellen Kultur, die die sozio-kulturelle Ebene der Gegenstände weit stärker in den Fokus nimmt) und/oder vor allem Arbeitsabläufe als Kulturtechniken (die jedoch oftmals ihrem Kontext und damit ihrem Bedeutungsnetzwerk enthoben und verzerrt sind) bei, die scheinbar besser konkret verwertbare und vermittelbare Ergebnisse liefern. Besonders in dem Bereich der handwerklichen und konkret physischen Eigenschaften der Sachkultur ist erstaunliches Fachwissen vorhanden, was jedoch dazu zu führen scheint, andere Bereiche Materieller Kultur zu vernachlässigen, so dass sich das Erleben der Geschichte auf wenige Ausschnitte modernen Erlebens historischer Gegenstände und Handwerkstechniken reduziert, was gewisse nicht gegenstandsbezogene Bedürfnisse zu befriedigen scheint und woraus sich spezielle Geschichtsbilder zu einer spezifischen Geschichtskultur verdichten, die im Gegensatz zur Fachwissenschaft vor allem erkenntnistheoretische Probleme gänzlich zu vernachlässigen scheint.
Bis hierher bedeutet dies zusammengefasst, dass in der Schule nachwievor weitgehend bestimmte Formen der Geschichtsinterpretation erlernt werden, die auf Identitätsstiftung und große Erzählungen hinauslaufen. Da die Themen immer noch eher fern der Interessen sind, eröffnen sich Räume für die eigene Beschäftigung mit Geschichte, von denen eine Form die der darstellenden Geschichtsinterpretation ist, die auf Alltagsgeschichte fokussiert und das Erleben als eine quasi ahistorische zentrale Kategorien setzt. Die Neue Kulturgeschichte kann ihre Interpretationen der Alltagsgeschichte nur schwer vermitteln, was nicht zuletzt an ihrer tatsächlichen Komplexität liegt. Die Vielheit der Deutungen wird nicht zuletzt als Legitimation eigener Interpretationen genutzt, um so eigene Refugien des oftmals sehr speziellen Wissens zu schaffen.

Das Erleben in "Erlebbarer Geschichte" als erkenntnistheoretisches und praktisches Problem – ein Problemaufriss

Eines der grundsätzlich zu thematisierenden Probleme im Living History als Vermittlungsweg vergangener Lebenswelten kann die unreflektierte oder gar zum Zwecke des Erkenntnisgewinns genutzte Kategorie der Erfahrung, bzw. des Erlebens sein. Das Problem ist dabei zweierlei Art und besteht zum Einen in einer Mangelerfahrung und zum Anderen in einer Übererfahrung.
Die Mangelerfahrung besteht darin, dass nur wenige Bereiche der Lebenswelt durch Erfahrung zugänglich gemacht werden und wird verstärkt dadurch, dass auch diese letztlich modern erfahren werden, also durch moderne Vorerfahrungen, Deutungsmuster, Interpretationsschemata, Seh- und Empfindungsmöglichkeiten geprägt sind damit nur die Erfahrung eines konkreten Ausschnitts, losgerissen von seinem weiteren semantischen Gehalt und Erfahrungshorizont mit modern sozialisierten (neben den modern-biographischen) Seh- und Deutungsgewohnheiten wiedergeben.
Zum Anderen herrscht ein Erfahrungsüberhang vor, der darin besteht, dass in dem Erfahren der verschiedenen Situationen keine historisch bedingte Unterscheidung der Lebenswelten vorgenommen wird, also grundlegend verschiedene Lebenswelten erfahren werden, die den Zeitgenossen bestimmter sozialer Schichten, usw. Versperrt geblieben sind. Freilich sind auch diese letztlich modern erlebt.
Damit führt die Kategorie der Erfahrung als vermeintliches Erkenntnisinstrument über falsche Projektionen und einer scheinbaren Ahistorizität dieser Kategorie zu problematischen Geschichtsbildern und sollte daher zugunsten einer reflektierten Beschäftigung mit der Konstitution und Konstruktion von Wahrnehmung und einer Betrachtung von außen weichen, die nicht das Erleben in der Vordergrund stellt, sondern das verdeutlichende Anschauen und das Problematisieren des Gesehenen, wie des Sehens (und aller weiteren, beteiligten Wahrnehmungsapparate) fördert.
Die Ausklammerung des Erlebens als historisches Erkenntnismittel gehört somit ebenso zu den Grundlagen, die eine Didaktik der (auch zwangsweise unter anderem Namen zu etablierenden) "Erlebbaren Geschichte" als Vermittlungsinstrument, beachten muss.

*Der Begriff geht auf Jüdt und seine Untersuchung der Paläoastronautik zurück. Vgl. Jüdt, Ingbert: Aliens im kulturellen Gedächtnis? Die projektive Rekonstruktion der Vergangenheit im Diskurs der Präastronautik, S. 97ff, in: Engelbrecht, Martin; Schetsche, Michael (Hrsg.): Von Menschen und Außerirdischen, Bielefeld 2008, S. 81-104.

Mündigkeit als Problem – eine Annäherung


In diesem kurzen Aufriss soll das Konzept von Mündigkeit, sowie dieses als philosophisches Problem genauer betrachtet werden. Dabei ist das hier gemeinte Konzept, da sich der Begriff der Mündigkeit in verschiedenen Bereichen findet, zuerst von jenen Bedeutungen zu trennen, die dabei außen vor bleiben sollen. Zu diesen gehört der rechtliche Inhalt im Sinne des Erreichens juristischer Volljährigkeit. Fokussiert wird damit auf den philosophischen Begriff, nicht zuletzt auch mit dem Anspruch, dass dieser es ist, der den anderen voraus gehen muss. Ebenso im Blick ist der politische, da er sich eng an den philosophischen Anlehnen muss.
Mündigkeit als philosophischer und politisierter Begriff dient dabei als Legitimationsgrundlage und Kampfbegriff. Das hinter diesem verborgene Konzept, seine Bedeutung ist maßgeblich für das Verständnis von Demokratie. Umso problematischer ist es, dass eine Beschäftigung mit dem Konzept recht dürftig stattfindet.
An einer ersten Annäherung und vor allem einem Problemaufriss ist dieser Arbeit gelegen. Dabei gestaltet sich eine freie Diskussion schwierig, ist das Konzept von Mündigkeit und die Postulierung selbiger doch für die meisten Individuen etwas selbstverständliches, so dass sich eine Relativierung, die sich aus der kritischen Betrachtung ergeben kann, fast notwendig Widerstand ausgesetzt sehen muss. Eine Annäherung muss sich damit auch auf das Selbstbild menschlicher Personen auswirken.
Ebenso muss eine kritische Beleuchtung auch Konsequenzen auf die politische Theorie haben, stellt doch Mündigkeit eine der grundlegenden Voraussetzungen für den Großteil gegenwärtiger Demokratiekonzepte dar, so dass sich bereits aus diesem Umstand ein Interesse der Philosophie, in diesem Fall der Politischen, zwangsweise ergibt.
Im Zuge der Skizzierung bisheriger Definitionen und der sich anschließenden Probleme wird und soll auch die Relevanz für weitere Bereiche der Philosophie herausgestrichen werden, die dazu führen muss, sich diesem Thema von mehreren Bereichen aus zu nähern. Zu diesen gehören die Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Ethik, als auch Handlungstheorie. Weiterhin kann sich eine intensive und ausführliche Beschäftigung nicht in der Philosophie allein erschöpfen, sondern muss ebenso auf soziologische und psychologische Zugänge ausgerichtet sein.

Um sich dem Begriff und damit dem Inhalt zu nähern soll als erstes dessen Ursprung betrachtet werden. Ausgehend von diesem soll der Begriff skizzenhaft erweitert werden. In einem weiteren Teil werden dann einige Probleme zur Sprache kommen, die als offene Fragen zugleich auf eine Notwendigkeit einer eingehende Untersuchung verweisen sollen.

1. Klärung des Begriffs

1.1. Kant

Kant ist einer der ersten, der Mündigkeit zu definieren versucht und stellt den Grundbezug nahezu aller Beschäftigungen mit dem Konzept dar. Dabei spricht Kant nicht über Mündigkeit, sondern über Unmündigkeit und definiert so den Begriff ex negativo.1
Um das Vielzitierte erneut zu wiederholen, ist Unmündigkeit „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Dementsprechend ist Mündigkeit das Vermögen, sich seines Verstandes zu bedienen, ohne auf die Leitung eines anderen angewiesen zu sein.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit dann, wenn der Mangel dieses Vermögens nicht auf den Mangel des Verstandes zurückzuführen ist. Implizit erscheint hier bereits die Möglichkeit, aufgrund mangelnden Verstandes, ohne den Begriff hier genauer zu bestimmen, unmündig zu sein. Diesen Punkt gilt es dabei im Auge zu behalten.
Für Kant ist nun der Entschluss maßgeblich, den Verstand zu gebrauchen, wenn auch offen bleibt, ob jede Person dies kann und inwieweit es graduelle Unterschiede gibt. Die Kantische Konzeption von Vernunft und Personalität legt jedoch nahe, dass Mündigkeit potentiell allen Menschen zukommen kann.
Verstanden wird Mündigkeit auch als Prozess, als etwas erst Herzustellendes, wodurch sich mehrere Problemen ergeben, die in späteren Abschnitten zum Tragen kommen werden.
Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ gibt damit ein sehr oberflächliches, kurzes und problematisches Konzept von Mündigkeit wieder. Es stellt trotz seiner Kürze einen ersten Anhaltspunkt dar, während es zugleich wichtige Probleme benennt. Vieles bleibt ungeklärt, so dass im Folgenden das Konzept Adornos, das ebenfalls grundsätzlich auf Kant referiert, jedoch das Konzept graduell stärker ausformuliert in den Blick genommen werden soll.




1.2. Adorno – Erziehung zur Mündigkeit

In „Erziehung zur Mündigkeit“ schreibt Adorno in Bezug zur kulturellen Ungeformtheit des Agraischen folgendes über das Konzept der Mündigkeit:
„Das Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht einmal von sich selbst weiß, daß es tot ist.“2
Kern der Mündigkeit bildet dabei einerseits die Überwindung der vermeintlichen Urwüchsigkeit der Verhältnisse, der Konventionen oder anders ausgedrückt, die Überwindung des verdinglichten Bewusstseins, dass das Gewordensein seiner selbst nicht gewahr wird.3 Andererseits ist es die Abkehr von Autoritäten, wie dies auch schon bei Kant beschrieben wird, jedoch soll damit keine Scheinmündigkeit gemeint sein, die nichts weiter als ein primitiver Anti-Autoritarismus ist.
Zentrale Begriffe bei Adorno sind damit Selbstreflektion und Autorität.
Die Selbstreflektion bedeutet dabei das Hinterfragen gesellschaftlicher Konventionen und damit der Gesellschaft und ihrer Regeln selbst, als auch des Einflusses dieser auf das eigene Denken und den eigenen Willen4, ihr Feind ist die Anpassung, wobei in Bezug auf diese von einem dialektischen Verhältnis ausgegangen wird. So ist zur Bewusstmachung der determinierenden Mechanismen eine Realitätsprüfung und damit ein Moment der Anpassung nötig, dass wiederum die realen Verhältnisse reproduziert.5 Das Ziel scheint dabei zu sein, in der Anpassung letztlich durch die Reflektion über sie hinaus zu gehen und die Realität zu verändern. Bewusstwerdung der Verhältnisse innerhalb dieser, dann Reflektion, Hinterfragen und durch das eigene Handeln ein Zurückwirken auf die Verhältnisse und eine Änderung.
Allerdings darf Mündigkeit und Selbstreflektion nicht nur als auf äußere Einflüsse bezogen verstanden werden. Auch das eigene Selbst schafft sich Grenzen, Determinanten und Vorherbestimmung aus sich selbst heraus, wobei auch dabei die Gesellschaft indirekt beteiligt ist.6 Die zu hinterfragende Fremdbestimmung muss zumindest nicht vordergründig mit „Anderen“ zu tun haben, es kann sich bei ihr auch um eine Fremdbestimmung durch das eigene, gegenwärtige oder frühere Selbst handeln.
Die Autorität betreffend ist Vorsicht geboten.7 Wie erwähnt geht es nicht um einen Anti-Autoritarismus, wie er gern von bestimmten Gruppen praktiziert und als Mündigkeit missverstanden wird. Weder ist blindes Ablehnen sinnvoll, noch soll Sachautorität negiert werden.
Auch weißt Adorno mit Blick auf Freud darauf hin, dass vor Mündigkeit, also der Abnabelung von Autorität, diese erst bestehen muss.8
So muss auch, um es auf die Bildung zu beziehen, dem Lehrer Autorität zugestanden werden, seinen Anweisungen gefolgt werden, die freilich in ihrer letzten Instanz auf die Negierung oder Relativierung dieser Autorität hinauslaufen sollen.
Dies findet ihre Evidenz auch in der Moralerziehung, wie sie u.a. von Piaget9 und Kohlberg10 über Habermas11 bis zu Schwickert12 verstanden wird. Die moralische Orientierung bewegt sich dabei, je nach Entwicklungsstufe, von dem autoritären Charakter der Bezugspersonen, hedonistischen Handlungsgründen über autoritäre Grundregeln der Gesellschaft bis hin zu reflektiert und kontextuell gebrauchten und begründeten, universellen Prinzipien. Dabei ist auch hier das Moment der Anpassung und des Realitätsbezugs vorhanden. In der Moralentwicklung stellt dies auf der 8. Stufe nach Schwickert eine besondere Herausforderung dar, da hier, nachdem das universell richtige in der konkreten Situation erkannt wurde, die Gesellschaft erneut betrachtet und beides versucht wird in Einklang zu bringen. Ziel ist nicht nur die konkrete Handlung, sondern zugleich die Veränderung der gesamten Verhältnisse bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen Person in dieser Gesellschaft. Die 8. Stufe ist somit erneut eine strategische, ähnlich der niederen, egoistisch-hedonistischen, nur ist sie hier eine idealistisch-strategische.

Auf den Punkt gebracht bedeutet das bisherige also: „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […]. Das erweist sich aber an der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.“13
Mündigkeit ist damit eine Fähigkeit zur Kenntnis der eigenen Determinanten und des gesellschaftlichen Spiels, wobei es zwar ein notwendiges Existieren in diesem Spiel gibt, zugleich aber ein unerläßliches Außenstehen, ein Beobachten, Erklären und notfalls Eingreifen. Damit einher geht ein Erkennen der Welt als eine gemachte, eine Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, so dass die vorgegebene Gesellschaft und damit auch der Mehrheitswillen nicht zugleich zum Sollen erklärt wird. Eine solche Interpretation würde sich des „deskriptivistischen Fehlschlusses“ schuldig machen, wie Hare es bezeichnet.14
Dabei bleibt Mündigkeit auch bei Adorno etwas Herzustellendes und nicht Gegebenes.15

2. Der holprige Weg zur Mündigkeit

Die beiden Positionen zusammengefasst ergeben ein Skizze von Mündigkeit, wie sie auch gegenwärtig gebraucht wird. Mündigkeit soll die Fähigkeit einer Person zur Selbstbestimmung sein und damit die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln selbstbestimmt und frei von äußerer Einflussnahme gestalten zu können. Prägnant formuliert findet sich dies folglich auch bei Peter Massing im Lexikon der politischen Bildung: „Mündig ist der Mensch, wenn er zu eigenem Denken gelangt ist, wenn er von Vorurteilen und Verblendungen frei […] gelernt hat, Vorgefundenes kritisch zu reflektieren […], um auf dieser Basis zu entscheiden“16
Wie bei allen Autoren klar geworden sein sollte, ist Mündigkeit dabei etwas herzustellendes, prozesshaftes, so dass sich die Frage ergibt, wie und mit welchen Mitteln dies zu erreichen sein soll.
Als solche Mittel nennt Adorno Medienkompetenz, Bildung und Erziehung zur kritischen Selbstreflektion, wie auch generell zu einer Kritik an Gegebenem, anders ausgedrückt, zu einer kritischen Differenz zwischen Sein und Sollen, die, wenn sie vernachlässigt wird, mit der entsprechenden Sozialisation den Grundstein für eine lebenslange Unmündigkeit legt.
Besonders der bereits erwähnten Moralerziehung muss dabei eine Schlüsselrolle zukommen, da es Ziel dieser ist, Konventionen zu hinterfragen.
Weiterhin spielen Informationen, spielt Wissen eine wichtige Rolle bei der Abkehr von Autoritäten. Damit erreicht auch der Begriff der Medienkompetenz eine Schlüsselfunktion.
Besonders das Fernsehen als Ideologie mit seiner Vorwegnahme von Surrogaten17, Adorno spricht hier die Liebe an, gegenwärtig wird eher von „sexueller Verrohung“ gesprochen, spielt als zugleich Autorität eine wichtige Rolle. Dabei ist dieses Problem bei allen Massenmedien vorhanden. So spricht Mill dieses Problem bei den Zeitungen an, Adorno in Bezug auf das Fernsehen und jüngst wird auch die Problematik des Internets angesprochen. Eine der Kernfragen, die sich dabei stellt ist jene, ob Fernsehen oder irgendein anderes Massenmedium besser sein kann, als die Gesellschaft, die es produziert oder ob es gezwungenermaßen diese nur spiegelt und Vorurteile notwendig reproduziert. Unabhängig von der Antwort ist aber eine Ausbildung der Medienkompetenz als besonders wichtig anzusehen. Auch und insbesondere Massenmedien müssen ihren autoritären Charakter verlieren. Die Massenmedien sind dabei nichts zwangsläufig abzuschaffendes. Sie dienen zwar oftmals als Reproduktionsmechanismen gesellschaftlicher Konventionen und müssen kritisch „gelesen“ werden können, um sie von vorgefertigten Deutungen und Sinnstiftungen zu trennen. Jedoch sind diese Medien auch nötig, um in breiten Massen Informationen erlangen, bzw. verteilen zu können, ohne die Unabhängigkeit nicht vorangetrieben werden kann.
Neben der individuellen darf dabei nicht die politische Ebene vergessen werden, nicht allein das Individuum muss zur Reflektion gezwungen sein, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes, die Politik muss Entartungen, die unreflektierte „Zementierung der Barbarei des Bestehenden“ verhindern helfen.18
Bildung steht nun mit all diesem in Zusammenhang, so dass hier nur wenige, grundlegende Gedanken geäußert werden sollen. So liegt im Begriff der Bildung eine Mehrdeutigkeit.19 Es kann unter ihr formale Bildung verstanden werden. Diese zu fördern ist zweifelsohne wichtig, als das sie die nötigen Hintergrundinformationen, das nötige Fachwissen und den aktuellen Stand der Forschung liefern muss, um in konkreten Fragen Antworten zu können. Sie liefert dem Verstand sozusagen das Arbeitsmaterial, mit dem er sich beschäftigen kann, bzw. damit er sich überhaupt mit einer Sache beschäftigen kann. Formale Bildung reproduziert aber ebenso gesellschaftliche, vermeintliche Gewissheiten und Konventionen und ist somit ebenso gefährlich und letztlich immer konservativ. Dieser Bildung, welche Allgemeinwissen, wie auch Fachwissen generiert, muss notwendig eine reflektierte Intellektualität gegenüber gestellt werden. Bildung und deren Inhalte müssen durch das Individuum kritisch geprüft, in größeren Zusammenhängen gedacht und kontextualisiert angewendet werden können. Gleichzeitig bezeichnet diese kritische Intellektualität die Ebene der (Selbst-)Reflektion, die auch schon in der Erziehung ihren Ursprung finden muss.
„Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zur kritischen Selbstreflektion“, schreibt Adorno dazu.20 Damit ist deren Ziel festgelegt. Es ist eine Erziehung zum Widerspruch und Widerstand, die auch dem Lehrer nicht blind vertraut. Es ist die Erziehung zu einem „richtigen Bewusstsein“.21
3. Mündigkeit als Problem

Aus dieser an einem Ideal ausgebildeten Vorstellung von Mündigkeit und der Sichtweise ihrer Erreichbarkeit, ergeben sich eine Vielzahl an Problemen, die zugleich philosophisch aber auch politisch relevant sind und die entweder die bisherigen Definitionen verändern müssen oder aber die Vorstellung von der Zugänglichkeit zur Mündigkeit infrage stellen muss.
Eines der Kernprobleme bildet dabei der Bereich der Determiniertheit und die Frage ob und inwieweit es möglich ist, dieser zu entfliehen. Diese Frage gilt umso mehr, als das es verschiedene Subkategorien dieses Bereichs gibt und für jede einzeln untersucht werden müsste, inwiefern der Einfluss dieser Mechanismen abstellbar ist. Es handelt sich dabei um die Bereiche und entsprechende Fragen der neurologischen Determiniertheit, die zwischen Neurobiologie und Philosophie des Geistes diskutiert werden, um Fragen der Sozialisation, des Habitus und der lebensweltlichen Wahrnehmung in Anlehnung an Husserl oder Schütz, um die bereits angesprochenen Fragen nach der kulturelle Prägung und den Stufen der Moralentwicklung, sowie der dafür nötigen kognitiven und empathiven Entwicklung, wie sie bei Piaget, Kohlberg, Habermas, Schwickert und Hare diskutiert werden. Ohne ein zumindest partielles Entkommen dieser determinierenden Mechanismen, die unentwegt Konventionen und vermeintliche Gewissheiten produzieren und die Wahrnehmung formen, kann Mündigkeit nicht existieren.
Im Falle der neurologischen Determiniertheit stellt sich gar die Frage, ob Mündigkeit, ebenso wie der freie Wille, der zwingend dafür nötig ist, nicht als Illusion betrachtet werden müssen. In den anderen Bereichen scheint die Frage feinere Abstufungen zuzulassen. Der Grad der Mündigkeit hängt dabei maßgeblich vom Grad der angenommenen Determiniertheit ab und von der Möglichkeit, diese zu überwinden.
Weiterhin ist nach der Rolle des Wissens zu fragen, bzw. nach der Rolle formaler Bildung. Da davon auszugehen ist, das nie in allen Bereichen vollständiges Wissen vorliegen kann, ergibt sich zwangsweise eine Abhängigkeit von Experten, bzw. Fachleuten, die zu bewerten wäre. Die Komplexität der Zusammenhänge, die gekannt werden müssen, um ihnen zu entfliehen macht in vielerlei Hinsichten zu Recht ein Studium nötig. Wie sollte unter dieser Vorgabe eine Mündigkeit erreicht werden können, auf welche Kompetenzen müsste seitens der Allgemeinbildung fokussiert werden um Experten im Sinne Adornos anerkennen zu können, jedoch nicht blind Folge zu leisten?
Dabei stellt sich nicht zuletzt besonders die Frage nach dem Problem der Halbbildung, die besonders gefährlich ist, da sie vermeintlich begründete Gewissheiten produziert, die lediglich Scheinautorität besitzen und damit subjektiv Sicherheit generiert, die objektiv nicht gegeben ist. Dabei ist noch über Adorno hinauszugehen, denn jedes Wissen über eine Situation bleibt unvollständig, selektiv, wird gefiltert.
Ebenso verweist der Charakter des erst Herzustellenden der Mündigkeit darauf, dass es Unmündigkeit gibt. Dabei wäre zu fragen, ob es Minimalforderungen gibt, auf deren Grundlage das Prädikat „mündig“ zu- oder abgesprochen werden kann und ob diese hinreichend oder lediglich notwendig sind, so dass die Frage entsteht, ob es darüber hinaus weitere Abstufungen geben können muss, so dass sich ein relationaler Begriff von Mündigkeit ergeben könnte, der sich nicht zuletzt auf politische Konzepte auswirken muss.
Dabei sind auch die impliziten Begriffe, bzw. Konzepte von Personalität und Vernunft zu hinterfragen, die als Grundbedingung, nicht zuletzt auch bei Kant, gelten. Inwiefern sind diese berechtigt Grundbedingungen zu sein und wie gestaltet sich das Spannungsfeld zwischen metaphysischer Grundlegung und empirischer? Besonders der Begriff der Vernunft und seine Absolutheit oder Relativität sind dabei zentral.
Im Zuge einer graduellen Abstufung, die sich aus dem Vernunftbegriff ergeben könnten aber auch generell die Problematik von Bedingungen betreffend, stellt sich zudem zwangsläufig die Frage nach der epistemischen Gewichtung von Meinungen, die besonders in politischer Hinsicht noch einmal als Frage auftauchen wird.
Auch die neuere Emotionsforschung muss berücksichtigt werden. Folgt man deren Ergebnissen, so sind Emotionen wichtiger Bestandteil praktisch aller kognitiven Prozesse, so dass es nicht wie in rationalen Handlungstheorien um ein Unterdrücken und Kontrollieren von Emotionen gehen kann, um „vernünftiges“ und reflektiertes Denken zu ermöglichen. Vielmehr müssen Emotionen als unentbehrlich gedacht werden und als solches anerkannt werden. Dabei stellt sich das Problem, dass auch diese gesellschaftlichen Regeln unterliegen und so unbewusst das Denken beeinflussen.22 Als wichtiger Bestandteil müssen also die „richtigen“ Emotionen ausgewählt werden und der Prozess des Denkens und der Filterung von Informationen müsste selbst ständig überwacht werden, hält man am bisherigen Konzept fest.

Nicht zuletzt ergibt sich aus der Mündigkeit als Haltung, bzw. Meinungsbildungs- oder Erkenntnisprozess noch nichts in Bezug auf das praktische Handeln. Mündiges Handeln, also ein Handeln aufgrund geprüfter, universeller, in dieser Hinsicht vernünftiger und nicht bloß lebensweltlich relevanter Gründe23, stellt das mündige Individuum vor weitere Aufgaben. Der Mündigkeit als epistemischem Konzept muss also eine Handlungskonzept zur Seite gestellt werden. Dieses muss auf das von Adorno genannte Problem, denn ein solches stellt es dar, der Lösung aus der Lebenswelt und deren Wiedereintritt einzugehen imstande sein. Wie kann also ein mündiges Handeln, dass ein unabhängiges sein soll, mit den faktisch vorhanden zum Teil asymmetrischen Abhängigkeiten in der Lebenswelt in Einklang gebracht werden? Dabei stellt sich ebenso die Frage nach der Einlösung von Geltungsansprüche mündiger Personen gegenüber nichtmündiger und der Gesellschaft insgesamt.
Damit ebenso im Zusammenhang, jedoch auch unabhängig davon stellt sich das Problem der Willensschwäche und ihr Einfluss auf mündiges Handeln.
Dies sind nur einige der Fragen, die sich aus dem Konzept ergeben.

Anhand dieser vornehmlich theoretischen Fragen ergeben sich eine Reihe praktischer, die sich besonders im Bereich der Politischen Philosophie und Politischen Theorie bewegen.
Es ist davon auszugehen, dass eine kritische Beschäftigung mit dem Konzept der Mündigkeit dazu führen kann, dass die bisherige Handhabung nicht den Erfordernissen entspricht. Nicht zuletzt die real-politische Bindung des Mündigkeitsstatus an den Eintritt ins 18. Lebensjahr, dass die Grundlage für bestimmte Formen politischer Partizipation darstellt, wäre auf die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Im Zuge dessen wären politische Konzepte zu betrachten, die implizit mit stärker relationalen statt postulierten Mündigkeitbegriffen arbeiten. Eine kurze Skizzierung auch dieser Problematik soll nun folgen.

3. Politische Implikationen

Demokratie, wie sie allgemein verstanden wird, basiert auf Vertragstheorien, deren Kern ein Zusammenschluss aus in ihren Fähigkeiten gleichen und unabhängigen Personen ist, die somit in einem groben Sinne mündig genannt werden könnten. Das derartige Theorien allerdings Probleme haben den realen Asymmetrien und Abhängigkeiten, beispielsweise bezüglich Kinder, geistig Beeinträchtigten und nichtmenschlichen Tieren, Rechnung zu tragen, darauf hat jüngst Martha Nussbaum in ihrer Auseinandersetzung mit Rawls hingewiesen und dessen Theorie entsprechend um ihren Fähigkeitenansatz erweitert.24 Eine kritische Betrachtung des Konzepts der Mündigkeit könnte jedoch notwendig darüber hinaus führen, besonders, wenn diese Betrachtung zu einer relationalen Neuformulierung führt. Selbst auch bei der Annahme von Grundbedingungen der Mündigkeit wäre zu fragen, inwieweit einem möglichen epistemischen Mehrwert, der sich aus einer stärkeren Lösung aus der eigenen Lebenswelt, bzw. einer stärker unperspektivischen Betrachtung der jeweiligen Probleme durch das entsprechende Individuum ergibt, politisch Rechnung getragen werden soll und muss. Wie gewichtet sich politisch also eine graduell höhere Form von Mündigkeit, eine in diesem Sinne „freiere“ Meinung?
Diese Frage stellt sich sowohl wenn sich die Sollgeltung politischer Normen aus dem Mehrheitswillen generiert, in diesem Fall kommt ein Bürger seinem Willen näher, je mündiger er ist, als auch, wenn sich die Sollgeltung auf dem was „gerecht“, „gut“ oder „moralisch richtig“ ist gründet, da die Erkenntnis dessen nur denen zufällt, die über Selbstreflektion und eine möglichst hohes Maß an moralischer Reife verfügen.
Dabei sind im Zuge einer solchen Betrachtung erneut die zentralen Begriffe „Vernunft“ und „Person“ zu hinterfragen, diesmal jedoch das politische Verständnis betreffend und damit den Zusammenhang als Bedingung für politische Mündigkeit oder anders ausgedrückt, als Grundlage politischer Partizipation (auch in Bezug auf eine Mehrstufigkeit).25
Besonders das Hinterfragen bestehender Konventionen als Teil der Mündigkeit spielt politisch eine wichtige Rolle. Eine unreflektierte Übernahme dieser verhindert oft (moralischen) Fortschritt und kann Ungerechtigkeiten (re)produzieren. Wie soll aber einem beständigen Hinterfragen Rechnung getragen werden, wie kann dies politisch verankert sein und auch hier die Frage, wie sich höhere Mündigkeit zu einer numerischen Mehrheit ins Verhältnis setzen soll.

Politische Konzepte, die einer ungleich vorhandenen Mündigkeit Rechnung zu tragen versuchen, werden dabei bereits seit der Antike diskutiert. Prominentester Vertreter ist dabei wohl die platonische Epistokratie. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen, die sich auch aus den hier aufgeworfenen Fragen ergeben. Dabei wird im Sinne eine an den Konsequenzen orientierten Politik besonders der epistemische Mehrwert von Weisheit herausgestellt, die nicht zuletzt Mündigkeit als notwendige Bedingung voraussetzt. Ähnliches gilt für John Stuart Mill und seine scholastokratischen Überlegungen, die auf die Frage nach der Feststellbarkeit besonders auf Bildung und ein daran gemessenes ungleiches Wahlrecht fokussieren26, dass jüngst von David Estlund27 kritisiert wurde. Mill spricht besonders eine schichtspezifische Determination als Grundlage dieses Wahlrechts an, die für ihn bisher nur unzureichend aufgebrochen werden konnte und direkt relevant für Mündigkeit zu sein scheint. Nicht zuletzt versuchen auch Modelle deliberativer Demokratien durch den Zwang des besseren Arguments und ihre implizite Bevorteilung „gebildeter“ Schichten einem etwaigen Mangel an Mündigkeit politisch entgegen zu wirken.
Somit ergeben sich weitreichende Fragen und Konsequenzen der praktischen Philosophie durch eine systematische Konzeption, bzw. Theorie der Mündigkeit.

Fazit

Es bleibt festzuhalten, dass Mündigkeit als etwas Herzustellendes darin besteht, als Individuum in seiner Meinungsbildung weitestgehend autonom von äußeren Einflüssen, wie auch innere Zwängen zu sein. Kritische (Selbst-)Reflektion bildet somit den Kern, die das beständige Hinterfragen der Sollgeltung von Werten und Wissen beinhaltet. Dies bedeutet, die Gemachtheit von allem, auch des eigenen Selbst und des Lebensentwurfs anzuerkennen und auf diese zu reagieren. Mündigkeit ist damit auch Selbstkontextualisierung.
Zum mündigen Denken muss notwendig mündiges Handeln hinzutreten. Mündigkeit könnte somit in Anlehnung an Adorno und Schwickert darin bestehen, aus der Lebenswelt, ja aus sich selbst herauszutreten, eine unperspektivische Haltung einzunehmen und daraufhin erneut in die Lebenswelt einzutreten und diese durch neues Wissen und neue Werte zu prägen. Die Fragen, die sich notwendig stellen sind jene nach den Hindernissen auf diesem Weg, den Determinanten und nötigen Fähigkeiten. Damit werden eine ganze Reihe philosophischer aber auch anderer Fachrichtungen angesprochen, die sich den Problemen annehmen müssen. Die Antworten auf diese Fragen und vor allem die Möglichkeit eines den Gegebenheiten gerechter werdenden relationalen Mündigkeitskonzept müssen zudem ihre Spuren in der Betrachtung politischer Prozesse und Legitimation hinterlassen.
Eine Beschäftigung mit diesem Thema scheint also nicht nur nötig, sondern in vielerlei Hinsicht, theoretisch, wie auch praktisch, relevant.

Literatur

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1Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.
2Adorno, S. 43.
3Das verdinglichte Bewusstsein wird beschrieben als unheilvoller Bewusstseinszustand, der das „So-Sein“ fälschlich als Natur und nicht für etwas Gewordenes hält. Vgl. Adorno, S. 99 und S. 141.
4Dabei ist es für Adorno wichtig, besonders auch auf die hinderlichen Konventionen, die Kontrollen der Wissenschaft hinzuweisen, auch diese gilt es zu überwinden. Adorno, S. 44f.
5Vgl. Adorno, S. 109.
6Vgl. Adorno, S. 44.
7Vgl. Adorno, S. 139.
8Vgl. Adorno, S. 140.
9Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt am Main 1973.
10Kohlberg, Lawrence; Dwirght, R.Boyd, Levine, Charles: Die Wiederkehr der sechsten Stufe. Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral. In: Zur Bestimmung der Moral. Hrsg. v. G. Edelstein, Nunner-Winkler. Frankfurt 1986, sowie Kohlbergm Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt am Main 1974.
11Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität. In: Zur Bestimmung der Moral. A.a.O. 219-303.
12Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.
13Adorno: Kritik. In: Gesammelte Schriften. Band 10.2, S. 785.
14Vgl. Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
15Vgl. Adorno, S. 144.
16Massing, Peter: Politische Bildung. In: Richter, Dagmar/ Weißeno, Georg (Hrsg.): Lexikon der politischen Bildung. Band 1: Didaktik und Schule, Schwalbach 1999, S. 186.
17Vgl. Adorno, S. 44f.
18Vgl. dazu auch Adorno, S. 123. Die bestehende Ordnung erzeugt immer auch Akte der Barbarei und etablierte Mächte, deren Gewalt nur diejenigen spüren, die sich dieser verweigern.
19Vgl. Adorno, S. 57.
20Adorno, S. 90.
21Vgl. Adorno, S. 107.
22Zur Rolle der Emotionen im Denken und Handeln siehe von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.
23Mit dieser Begrifflichkeit soll noch einmal der Unterschied zwischen Gründen und Argumenten, zwischen bloßer Rationalität (die ausdrücklich auch ein Handeln anhand von Emotionen einschließen kann) und Vernünftigkeit benannt werden. Persönliche (oder auch kulturelle) Gründe für Handlungen sind höchst subjektiv und können damit nur begrenzt als Sollens- und damit Handlungsgrundlage benutzt werden. Erst im Prozess einer kritischen Prüfung, die auch von persönlichen Gründen als handlungsanleitende Elemente abstrahieren muss, kann ein „echtes“ Sollen oder im hier relevanten Sinne ein „mündiger“ Handlungsgrund geschaffen werden. In dieser Prüfung werden Argumente gebildet, von denen dann ihrerseits einige dieser als handlungsanleitende Gründe angenommen werden, die neue Intuitionen, Gründe oder Emotionen bilden. Eigentliche Grundlage für das Sollen bilden, auch im Sinne der Universalisierbarkeit und auch, wenn es im Alltag anders erscheint, aber weiterhin die Argumente und nicht die persönlichen Gründe. Erstere sind überprüfte, reflektierte und objektive Ideen und Sachverhalte, die aber nicht handlungsanleitend sind, solang sie nicht in die Lebenswelt und deren Bedingungen einbeziehend als persönliche Gründe übersetzt werden. Eine solche Prüfung und Übersetzung sollte die Grundlage mündigen Handelns sein. Mit dieser Überlegung wird zugleich das Problem der lebensweltlichen Abhängigkeiten und deren Relevanz für das Handeln angesprochen. Auch Schwickert spricht dieses Problem in Form der Verantwortung für Handeln unter Berücksichtigung der Beschaffenheit der Gesellschaft und der Moral als Telos in der 8. Stufe ihrer Moralentwicklung an. Vgl. Schwickert, u.a. S. 186f.
24Vgl. Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010. Insb. das I. Kapitel.
25Vgl. dazu auch Nussbaum, S. 186ff.
26Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873.
27Estlund, David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.): Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner, Toronto 2003, S. 53-69.

Why not Epistocracy! - Eine provokante Antwort auf David Estlunds "Why not Epistocracy?"

Diese Text versteht sich als Antwort auf einen Aufsatz mit dem Titel „Why Not Epistocracy?“ von David Estlund1, in dem er, anders als der Titel vermuten lässt, die scholastokratische Idee vor allem John Stuart Mills kritisiert. Dieser Beitrag soll nun die Kritik Estlunds an epistokratischen und scholastokratischen Theorien entkräften und aufzeigen, dass diese vielmehr andere demokratische Ideen (parlamentarische wie basisdemokratische) treffen muss. Weiterhin soll, ausgehend von der Kritik, sich einer Skizze eines epistokratischen Modells genähert werden, welches die Kritikpunkte beheben kann und das als deliberative Epistokratie bezeichnet werden soll. Dabei bildet dieser Aufsatz insgesamt nur eine erste Skizze und muss unvollständig bleiben. Er ist also mehr der Stein des Anstoßes denn der Stein der Weisen.

Bevor es zum eigentlichen Thema kommt, sind allerdings noch einige Anmerkungen zu der Diskussion selbst vonnöten, die die Vorbedingungen des jeweils Lesenden in den Blick rücken sollen.
Kritik an demokratischen Ideen zu üben ist eine heikle Angelegenheit. Zum Einen liegt dies an der anscheinend so intuitiv logisch erscheinenden Richtigkeit dieser Gesellschaftsform, die sich aus der Sozialisation in den entsprechenden Deutungs- und damit auch Taburahmen ergibt und andererseits an der daran gekoppelten politischen Unerwünschtheit einer solchen Kritik. Sofern die Kritik sich noch innerhalb anerkannter Demokratiemodelle bewegt, wie die Diskussion zwischen repräsentativer und basisdemokratischer, jüngst auch wieder deliberativer Demokratie, ist diese noch unproblematisch. Wird diese Bereich verlassen und findet Kritik außerhalb vorakzeptierter Modelle oder gar außerhalb demokratischer Modelle an sich statt, wird es kritisch. Dabei werden nun u.a. zweierlei Dinge übersehen, die ich kurz an-, allerdings nicht ausführen möchte.
Der erste Punkt betrifft den intuitiven Zugang. Dieser ergibt sich ganz selbstverständlich aus der politischen und gesellschaftlichen Sozialisation. Das System erscheint uns selbstverständlich, weil es das aus unserer Lebenswelt und unserer Einsozialisierung in sie heraus auch ist. Solche Gewissheiten kritisch zu hinterfragen ist und sollte zu jeder Zeit notwendig sein, nicht zuletzt im akademischen Rahmen. In diesem Sinne sei an folgenden Auszug in Mills Werk erinnert: „Sie glauben, daß die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, daß ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen.“ Ein Zitat, dass im Laufe dieser Arbeit noch einmal zu Wort kommen wird und das dafür eintreten soll, auch die Intuitionen und Gewissheiten zu hinterfragen, die das Politische betreffen, denn vor einer unkritischen Haltung sind auch Akademiker nicht gefeit. Ein kurzes Innehalten und Bewusstwerden über diesen Punkt soll vor allem verhindern, demokratiekritische Argumente allzu leichtfertig und aus einer intuitiven Haltung heraus abzuurteilen.
Es sollte also vorher geklärt sein, ob sich etwaige Ablehnung, ebenso wie auch Zustimmung, aus angeeigneten Konventionen, individuellen Intuitionen oder reflektierter Meinung speist.
Der zweite Punkt betrifft die Legitimation der Demokratie und was von politischer Seite gern aus ihr gemacht wird. Das „große Heil“ der Demokratie besteht darin, dass sie sich nicht als dogmatische Setzung, die sich auf Mythen beruft versteht, sondern als sich ständig veränderndes System, dass sich beständig im Diskurs selbst rechtfertigt. Dies ist allerdings nur möglich, wenn Argumente nicht von vornherein tabuisiert werden. Eine Kritik außerhalb der Demokratie kann epistemisch weitaus wertvoller sein, als eine Kritik innerhalb dieses Systems. Dies alles verlangt bei derartigen Diskussionen auch von politischer Seite Beachtung, die ihrerseits Offenheit voraussetzt anstelle einer latenten Feindlichkeit, wie sie sich auch bei Mill ausgedrückt findet:
„Aber die Gewohnheit über diese Übel hinwegzugehen, als wären sie unheilbar, ist so eingewurzelt, daß viele Personen fast die Fähigkeit eingebüßt zu haben scheinen, sie als etwas zu betrachten, dem sie gern abhelfen möchten, wenn sie nur können. Von der Verzweiflung an der Herstellung ist allzu oft nur noch ein Schritt zu der Wegläugnung der Krankheit, und diese hat zur natürlichen Folge, daß jeder Vorschlag eines Heilmittels auf große Abneigung stößt, gleich als ob der Vorschlagende ein Uebel schüfe, anstatt sich zur Beseitigung eines solchen zu erbieten. Die Leute sind an diese Uebel so gewöhnt, daß es ihnen unvernünftig oder geradezu unrecht scheint, sich über sie zu beklagen.“2

I. Estlunds Kritik

Die Kritik an der Epistokratie als solches fällt bei Estlund recht kurz aus und besteht im Kern an der Problematisierung des Begriffs der „Weisheit“, der die Legitimationsbasis darstellt. Im Gegenzug zu Platon gibt Mill laut Estlund eine scheinbar bessere, greifbarere Basis an, nämlich die der formalen Bildung. Dabei ist allerdings auch Estlund klar, dass dies ebenfalls ein Problem darstellt, da der Begriff der Bildung letztlich ebenso streitbar ist, ein Punkt, der zu einem späteren Zeitpunkt noch wichtig werden wird.
Estlunds Aufsatz richtet sich im Folgenden vor allem gegen Mills Idee des Mehrstimmenwahlrechts für Gebildete. Damit vertritt Mill keine klassische epistokratische Idee, bei der nur die „Weisen“ herrschen sollen. Vielmehr geht es hier innerhalb eines demokratischen Systems darum, ein ungleiches Wahlrecht zu etablieren, dass das quantitative Ungleichgewicht aus Gebildeten und Ungebildeten aufwiegen soll.
Der Grundgedanke dahinter besteht darin, einer höheren Bildung auch eine weisere Herrschaft zuzugestehen. Bildung wird damit ein politischer Wert zuerkannt. Streitpunkt ist dabei, ob dies nur bei der Gesamtbildung einer Gesellschaft im Vergleich zu einer anderen gilt und zu Konsequenzen führt oder auch innerhalb dieser gelten muss und damit zu einer Bevorzugung gebildeter Schichten und/oder Personen führen kann.
Estlunds Ansinnen ist es nun, diese Idee ungleichen Wahlrechts, das sich aus der größeren Weisheit der Gebildeten heraus ergibt und diese bevorzugt, zurückzuweisen, indem er zu zeigen versucht, dass sich der epistemische Wert, der sich aus dieser besseren Bildung vermeintlich ergibt, gegen verschiedene negative Aspekte eines solchen ungleichen Wahlrechts aufrechnet. Eine weitere Basis für die Ablehnung bildet eine in Anlehnung an Rawls und auch von Mill implizit eingeführte Hürde für die Einführung von Prinzipien, die besagt, es sollen nur solche Regeln ausgewählt werden, die vernünftigerweise allgemein akzeptiert werden können.
Hierbei wird anscheinend erneut klar, dass Bildung als Legitimationsbasis für das Argument besser geeignet sei als Weisheit, da formale Bildung fassbarer zu sein scheint und vermeintlich in einer allgemein anerkannten Basis definiert ist. Damit erfüllt Bildung scheinbar die Voraussetzung der Akzeptanz.
Estlund stell nun die Frage, wie es sein kann, dass einerseits Bildung ein politischer Wert zuerkannt wird, denn augenscheinlich scheint es sowohl theoretisch als auch praktisch gegeben, dass in einer Demokratie Bildung gefördert wird und sie dieser Grundlage bedarf, um überhaupt arbeiten zu können, andererseits eine Herrschaft der Gebildeten abgelehnt wird.
Dabei versucht er zu zeigen, dass es eine Trennung zwischen den folgenden Aussagen gibt. Die erste lautet:

„A well-educated population will, other things equal, tend to rule more wisely.“

Die zweite lautet folgendermaßen:

„Where some are well-educated and others are not, the polity could be better ruled by giving the well-educated more votes.

Dabei gründet sich die zweite Aussage maßgeblich auf der Idee Mills, dass es Unsinn ist, ohne Evaluation der Fähigkeiten einer Person, – und man könnte hier weiter gehen und sagen, ohne Bewertung des Prozesses unter dem diese Person zu ihrer Meinung gekommen ist – ihrer Stimme das gleiche Gewicht beizumessen, wie einer anderen.
Estlund meint nun, dass die erste Prämisse die Hürde der allgemeinen Akzeptanz durchaus meistern kann, die zweite jedoch nicht und dies ohne dass sich daraus die logische Ablehnung auch der ersten ergibt. Ablehnung muss dabei freilich auf vernünftigen Gründen basieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass erstens eine Trennung der beiden Aussagen nicht so einfach möglich ist und zweitens, dass die angeführten Gründe der Ablehnung ebenfalls unzutreffend sind.

1. Der politische Wert von Bildung als Kernaussage

Ein Problem an Estlunds Argumentation ist, dass sich die erste Aussage und die zweite nicht derart getrennt bewerten lassen. Um dies zu zeigen, muss die erste Aussage genauer betrachtet werden und zwar in Bezug darauf, wie sich denn eine gebildetere Gesellschaft von einer weniger gebildeteren unterscheidet. Es gibt dafür drei Möglichkeiten. Wichtig ist dabei, dass es sich hierbei um einen Durchschnitt handelt, so dass es auch weiterhin unterschiedliche Bildungsniveaus innerhalb der Gesellschaft gibt.
Die erste Möglichkeit ist nun, dass die ohnehin Gebildeten noch gebildeter werden. Dies hätte nun aber nach Estlunds Argumentation keinen Effekt, da sich ihr Stimmengewicht dadurch nicht erhöht. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass es weniger Ungebildete gibt oder, dass der Mindestlevel angehoben wird. Der Effekt könnte hier nun sein, dass das Bildungsniveau für bestimmte Handlungsgründe zu hoch ist, so dass beispielsweise primitiver Rassismus abgelehnt wird. Diesen Effekt gesteht Estlund zu, allerdings auch nur insoweit dieses neue Bildungsniveau in der Mehrheit vorhanden ist. Die dritte Möglichkeit ist eine Kombination aus beidem, hat aber nur in dem Sinne des zweiten Punkts einen Effekt.
Dabei ist zu beachten, dass die höhere Qualität der gebildeteren Gesellschaft sich immer aus gebildeteren Individuen ergibt. Die Meinung der Individuen ist dabei besser und höherwertig als die des gleichen Individuums vor der Erhöhung seiner Bildung. Wieso dies also als gut angesehen wird, solang dies auf das gleiche Individuum beschränkt ist aber nicht mehr gelten soll im Vergleich der Individuen untereinander, bleibt fraglich, wenn das höher gebildet sein doch einen positiven Effekt auslöst.
Es bleibt in diesem Zusammenhang fraglich, warum es einerseits gut ist, wenn ein bestimmtes Niveau erreicht wird, also Handlungsgründe mehrheitlich ausgeschlossen werden, es aber nicht gut ist, solang die Mehrheit dies nicht aus sich selbst heraus begründen und akzeptieren kann. In diesem vereinfachten Beispiel, dass sich an Estlunds vereinfachtes Beispiel anlehnt, könnte sowohl bei eins, als auch bei drei mehr erreicht werden, als bei Punkt zwei, zumal das Szenario aus Punkt zwei sich irgendwann an das Ideal von eins und drei angleichen würde, da ja davon ausgegangen wird, dass die Bildung diese positiven Effekte hervorruft. Es handelt sich dabei letztlich nur um eine Zeitverzögerung, die ihre Ursache in einer Opferung der Qualität vor der Quantität findet.
Dies gilt umso mehr, als das eine höhere Bildung politisch mehr bedeutet, als eine Abschaffung bestimmter Handlungsgründe, nämlich auch bessere Argumente im Diskurs um die verbleibenden Handlungsalternativen. Wieso dabei nun nur die Argumente berücksichtigt werden sollen, die real(!) und aus qualitativ schwächeren Perspektiven heraus mehrheitsfähig sind, bleibt unverständlich, nicht zuletzt in konsequentialistischer Sicht auf die etwaigen Opfer dieser Verzögerung.
Was vielmehr zählen sollte, ist die Qualität, denn diese ist es, die durch Bildung befördert werden soll und wenn dieser politischer Wert zukommt, so muss ihr durch diese Hierarchisierung auch mehr Gewicht gegeben werden können.
So ist es nicht nur höchst intuitiv zu fragen, warum die Meinung desjenigen, der sich intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt hat, genauso viel zählen und damit wert sein soll, wie die desjenigen, der dies nicht hat, um zwei Extreme zu konstruieren. Es untergräbt auch den Wert der Bildung, es negiert ihn sogar in politischer Hinsicht. Wenn beide Meinungen gleich viel wert sind und diesen erhalten sie durch die letztendliche Bestimmung der Entscheidung durch gleiches Wahlrecht in quantitativen Legitimationsprinzipien, dann ist es aus politischer Sicht heraus nicht begründbar, warum sich jemand mit einem Thema beschäftigen sollte, denn diese Beschäftigung hat politisch keinen Effekt. Es ist fraglich, wieso Bildung politisch gesehen dann überhaupt gefördert werden sollte, denn es erhöht nicht den politischen Wert einer Meinung.
Auf diese Art sind beide Argumente über ihre Grundlage, dem positiven Effekt der Bildung, der ein positiver politischer Wert zugesprochen wird, aneinander gebunden.
Wenn Bildung zu fundierteren Meinungen führt, dann müssen diese als solche gewichtet werden, ob sie nun aus Individuum oder aus Gruppen, aus einer Minderheit oder Mehrheit hervorgehen, ist für die Qualität des Arguments an sich völlig unbedeutend und muss dies sein, will man den qualitativen Vorteil nicht implizit wieder aufgeben. Dieser Punkt spricht für sich genommen jedoch nicht zwangsläufig für eine Epistokratie oder Scholastokratie, da nicht das Individuum höher gewichtet wird, sondern die Effekte durch dessen höhere Bildung, seine Argumente. Auch eine Demokratie kann also die positiven Effekte der Bildung nutzen und logisch konsistent auch den Mehrwert berücksichtigen. Dies führt lediglich weg von quantitativen Legitimationsprinzipien hin zu qualitativen, wie sie beispielsweise in deliberativen oder soziokratischen Modellen Anwendung finden. Auf diese Art wird die zweite Aussage nicht in ihrer Ursprungsform, sondern erst einmal abgewandelt übernommen. Die Regierung geht nicht absolut in die Hände gebildeterer Personen über, sondern nur relativ insofern, dass die besseren Argumente, die aus dem Mehr an Bildung resultieren auch in ihrem Mehrwert berücksichtigt werden. Bis hierhin lautet die zweite Aussage somit: Wenn es in einer Gesellschaft Personen gibt, die gebildeter sind, dann ist die Politik eine weisere, wenn den besseren Argumenten mehr Gewicht zugebilligt wird. Dies bedeutet nur noch indirekt Gebildeteren mehr Stimmgewicht zuzuerkennen.

2. „latent features“

Die weitere Frage ist nun, wie verhält es sich mit der ursprünglichen Aussage und der Ablehnung dieser. Auch wenn Argumente mehr Gewicht bekommen, so stellt sich immer noch die Frage nach der Besetzung von Ämtern, zumal nicht immer die Möglichkeit eines Diskurses gegeben ist. Die Frage ist nun, warum sollten Regierungsämter nicht vor allem durch die angesprochenen „Eliten“ besetzt werden. In den beiden folgenden Teilkapiteln sollen nun die von Estlund angeführten, möglichen Gründe der Ablehnung der zweiten Aussage genauer betrachtet werden.
Einer dieser Gründe ist laut Estlund, dass Gebildete oft zu bestimmten, exklusiven sozialen Gruppen gehören, die über strukturelle Ausgrenzungsprozesse diese Exklusivität erhalten und dies führt dazu, dass diese Gruppen nun politisch bevorteilt würden, woraus sich Probleme ergeben. Als Gruppe hätten diese nämlich lediglich ihre eigene, durch ihre jeweiligen schichtspezifischen Lebenswelten vorgeprägte Perspektive, in die nicht zuletzt auch schicht-, bzw. lebensweltspezifische Vorurteile übernommen werden. Aus diesem Umstand ergeben sich vermeintliche gruppenspezifische Interessen, die automatisch bevorteilt würden.
Dabei gehen sowohl Mill, als auch Estlund, in ihren Argumenten von privaten, eigennützigen Interessen der jeweiligen Individuen aus, die sich, aufgrund ihrer gleichen Herkunft, Sozialisation, usw. als homogene Gruppeninteressen abbilden lassen. Diese eigennützigen Interessen, die letztlich im Sinne der Argumentation immer die eigene Lebensform und deren Werte durchgesetzt wissen wollen und sich somit normativ über die Lebensformen anderer setzen, sollen nicht übermächtig werden können.
Das Problem liegt für Estlund also in dem Zusatz „other things equal“ der ersten Prämisse, der laut ihm in der zweiten Prämisse nicht mehr gegeben ist.
Estlund nennt dies „The Demographic Objection“, die er wie folgt beschreibt:

The Demographic Objection: the educated portion of the populace
may disproportionately have epistemically damaging features that
countervail the admitted epistemic benefits of education.“

Das Argument zielt zuerst darauf ab, die strukturelle Bevorteilung einiger Schichten (beliebtes Beispiel sind „weiße Männer der Oberschicht“) gegen den epistemischen Vorteil anzuführen. Das Argument bleibt laut Estlund selbst dann noch intakt, wenn es zu Angleichungen kommt, so dass auch andere Großgruppen Zugang bekommen und damit die bisher benachteiligten Schichten ausreichend Gebildete hervorbringen können. Es verbleiben laut Estlund dabei aber noch Religion, sexuelle Orientierung und weitere denkbare Unterschiede zwischen den Gebildeten und Ungebildeten. Diese müssen laut Estlund nicht einmal empirisch nachweisbar sein, als guter Grund einer Ablehnung reiche, die latente Gefahr. Estlund gibt nun an, nicht zu wissen, auf welcher vernünftigen Grundlage man diese Sorge zurückweisen sollte, da diese Sorge keinesfalls verrückt oder abwegig sei, wie die Geschichte gezeigt habe.
Er übersieht hier allerdings einen zentralen Punkt in Mills Argumentation. Estlund bezieht diese Probleme, die ja den epistemischen Vorteil relativieren sollen, nur auf die Gebildeten und deren angebliche spezifische Gruppeninteressen, während Mill das Extrawahlrecht einführt, um die Perspektive und die spezifischen Gruppeninteressen der quantitativen Mehrheit der Ungebildeten zu relativieren, die man in gleich grober Weise wie Estlund ebenso in bestimmte Schichten einordnen könnte.
Wichtig ist dabei, dass Estlund in diesem Zusammenhang ebenso unterschlägt, dass Mill nur eine Übergangslösung bezeichnet, da das Ideal eine ausreichende Bildung, wie auch immer die gemeint sein mag, für alle vorsieht und damit letztlich ein gleiches Wahlrecht. Bis dahin soll ein Opfern der Vielfalt und der Qualität durch Quantität verhindert werden. Zu diesem Zweck wird den Gebildeten ein Extrawahlrecht zuerkannt, um gegen die s.g. ungebildeten Schichten und ihre egozentrischen und egoistischen Interessen bestehen zu können. Das Ideal der allgemeinen Bildung soll erreicht, bis dahin aber keine Gleichgewichtung postuliert, sondern der Realität Rechnung getragen werden.
Zurück zu Estlund, ließe sich Mithilfe seiner eigenen Rechnung auch das Extrawahlrecht rechtfertigen. Da die Ungebildeten über ihre strukturelle Benachteiligung vermeintliche Vorurteile bilden, würden sie als numerische Mehrheit die Minderheit der Gebildeten benachteiligen, da die Gesetze, die sie erlassen, folgt man Estlunds Argumentation, allein durch deren Perspektive, Interessen und Lebenswelt geprägt sein würden. Ein Patt, der dafür spräche, immer auf eine Ausgewogenheit an Bildung und Unbildung zu achten, sofern man die sich vermeintlich aus diesen Großperspektiven bildenden Interessen gleich gewichtet.
Damit greift auch Estlunds Argument nicht, man könne die Angst vor solchen Benachteiligungen nicht vernünftig zurückweisen, so dass sie als Argument gelten müsse. Wäre dies so, dann muss die mögliche selbe Angst der Gebildeten vor den Ungebildeten ebenso zählen und bildet ein gleichgewichtiges Argument gegen die quantitative Mehrheit der Ungebildeten und damit gegen ein gleiches Wahlrecht. Nur die bloße quantitative Verteilung als Grundlage zu nehmen, um das gleiche Wahlrecht vor diesem Argument doch noch zu bewahren, also die Benachteiligung mit der normativen Mehrheit bestimmter Interessen und Perspektiven zu rechtfertigen, liefe letztlich auf einen Fehlschluss hinaus, der darin besteht, einen willkürlich gewählten Istzustand als normative Grundlage misszuverstehen.
Weitergedacht ist es im Sinne der bisherigen Argumente sogar so, dass in der vermeintlichen Pattsituation die Gebildeten noch einen Pluspunkt erhalten würden, denn hier, bei aller Einseitigkeit, würde zumindest diese noch durch die epistemischen Vorteile aufgehoben werden, die andererseits nicht bestehen und die auch Estlund ja nicht negiert. Zwar könnten diese auch in anderen, vermeintlich den Ungebildeten zugeordnete Gruppen, er führt das Beispiel der Bauern an, gefunden werden, jedoch bewegt man sich argumentativ dann eher im Rahmen technokratischer Überlegungen, auf die hier vorerst nicht näher eingegangen werden soll. Der Vorteil der Bildung soll gerade in einem umfassend größeren Wissen bestehen. (Auf die Probleme des Bildungsbegriff wird später eingegangen.)
Es lässt sich festhalten, dass es Mills Ansinnen ist, eine Tyrannei der ungebildeten Massen, bzw. generell jeder herrschenden Klasse und dazu zählt auch die demokratische, numerische Mehrheit, zu verhindern.3 Er versucht damit nichts weiter, als das auf einer Seite auszugleichen, was Estlund in anderer Weise für sich postuliert.
Die Sorge, eine Gruppe könnte bevorteilt sein, ist latent immer und in jedem politischen System vorhanden, sobald sich Mehrheiten bilden und sobald es die Möglichkeit gibt, Sozialkapital in irgendeiner Form anzuhäufen. Diese Sorge ist es sicherlich wert, über dieses allgemeine Problem nachzudenken, es trifft aber keinesfalls epistokratische und noch weniger scholastokratische Ideen, wobei der Vorwurf gegen letztere im Sinne Mills unzutreffend ist, da dieser genau die Behebung dieses Problems im Sinn hatte.
Ebenso besteht Mills großer Vorteil in dieser Erkenntnis, da er nicht, wie gemeinhin in politischer Diskussion, Legitimationsgrundlagen als gegeben postuliert, sondern trotz des Ideals die Realität und hier besonders in Bezug auf das Problem der Mündigkeit, nicht ignoriert.
Mill kann damit für eine ungleiche Behandlung im Stimmrecht vernünftige Argumente liefern, während Estlund dies bis hierher nicht vermag und gegen Ende seines Essays in willkürlicher Inkonsequenz endet, in dem er gewillt ist, mit den vorherrschenden politischen Konventionen übereinstimmend, bestimmten Personen, wie z.B. gewählten Vertretern oder Richtern ein höheres Stimmgewicht zuzugestehen, dafür aber nichts als seine Intuition angeben kann.

3. „conjectural features“

Estlund geht in seiner Argumentation noch einen Schritt weiter, indem er den Grund des Problems implizit umdreht. Nun ist es nicht mehr so, dass die Gebildeten aus bestimmen Schichten kommen, die sie determinieren, sondern dass die Bildung selbst zu Vorurteilen führt, so dass vermeintlich Ungebildete unterdrückt werden, bzw. die Bedürfnisse der Gebildeten bevorzugt, die der Ungebildeten benachteiligt. Es ist nun nicht mehr die vorgängige Lebenswelt Schuld an den Problemen, sondern die genuine Lebenswelt der Gebildeten.
So könnten laut Estlund Gebildete sexuell frustrierter sein und daher puritanische Gesetze erlassen. Unbemerkt scheint hier, wie mehrmals während des Aufsatzes, der Gegner zu wechseln. Das Argument richtet sich in der Form mehr gegen die Epistokratie, da nur hier überhaupt davon ausgegangen wird, dass die Gebildeten zwangsläufig die Regierung und die absolute Stimmenmehrheit stellen.
Nimmt man das Argument als Grund zur Ablehnung nun in der Weise ernst, wie Estlund es tut, dann ergeben sich eine Reihe von Problemen und Konsequenzen.
Das erste Problem besteht darin, dass man konsequenterweise gezwungen wäre, das Bildungsideal aufzugeben, da sich, auch wenn man nur ein gleiches Wahlrecht hat, die Gebildeten irgendwann in der Mehrheit befinden würden. Spätestens dann müsste es innerhalb Estlunds Argumentation sowieso zu diesen Bevorteilungen kommen, so dass man auch hier gezwungen wäre, immer für ein Gleichgewicht an Gebildeten und Ungebildeten sorgen zu müssen, um die Vorherrschaft einer Perspektive zu verhindern.
Das Problem des „other things equal“ lässt sich nun nicht auf die zweite Prämisse einengen, sondern gilt letztlich auch für die erste. Auch eine insgesamt gebildetere Gesellschaft kann über „latent“ oder „conjenctural features“ verfügen, zumal diese, wie bereits bemerkt, die individuellen Bildungsniveaus betreffend immer noch inhomogen zusammengesetzt ist.
Die Perspektivenverengung funktioniert als Argument zudem nur mit einer ganzen Reihe an Vorannahmen, die leicht zurückgewiesen werden können.
So baut die Argumentation bei Estlund vor allem auf Vermutungen auf, die die Gruppenbesonderheiten äußerst negativ konnotieren und vor allem diese Gruppen in für ihn wichtigen Punkten homogen konstruiert. Denkbar wäre durch die Überbetonung der Bedürfnisse der Gebildeten und deren Perspektive auch ein positiver Effekt, wie die stärkere Fixierung auf Bildung und aufklärerische Ideale, eine Beförderung der Mündigkeit, ganz so, wie Mill dies vorstellt. Dies ist nicht abwegig, werden doch besonders Kinder akademischer Familien durch diese gefördert (ob die Art und Weise wie dies geschieht immer sinnvoll ist, ist eine andere Frage).
Weiterhin ist es ebenso wenig abwegig, dass der höhere Bildungsgrad zu einer höheren Reflektionsebene führt, so dass es zur Korrektur vermeintlicher Bedürfnisse kommt, die von den weniger gebildeten scheinbar empfunden werden.
So könnten dadurch längerfristigere Projekte gefördert werden, statt kurzfristige. Um die Gruppen in ähnlicher Weise zu semantisieren wie Estlund das tut, könnte man davon ausgehen, dass die Ungebildeten aus unteren Schichten stammend eher, sich direkt aus dem Bildungs- und Reflektionsmangel ergebende, hedonistische und auf eine Lebensspanne bezogene Interessen verfolgen, die ihrer Lebenswelt nah sind und die Gebildeten zudem utilitaristische oder allgemein längerfristig orientierte.
Auf diese Reihe an Problemen wird später noch einzugehen sein, wenn es um die epistemischen Vorteile epistokratischer Systeme geht.
Neben den von Estlund vermuteten negativen Eigenschaften existieren demnach ebenso vermutliche positive, die in seiner Rechnung gleichfalls Beachtung finden müssten.
Nicht vergessen werden darf dabei auch, dass Estlunds Argument der verschiedenen „features“ nicht nur theoretisch auch auf andere Systeme anwendbar ist, sondern auch an dem Umstand vorbei geht, dass auch ganz real in der existierenden Demokratie privilegierte Gruppen einen eben solchen Zugang zu politischen Ämtern haben. Dies beeinflusst zwar nicht die Wahl in dem Sinne, das diese mehr Stimmen hätten, jedoch ist es für bestimmte Milieus einfacher, sich selbst zur Wahl zu stellen, politische Ämter zu besetzen und zu partizipieren. Der Zugang zur Partizipation ist wie auch jener zu Bildung und Einkommen real durch die lebensweltlichen Bedingungen determiniert. Die Probleme, die er anspricht, treffen also theoretisch und praktisch eine Vielzahl an Systemen und können daher nicht allein gegen Epistokratie oder Scholastokratie angeführt werden. Sieht man sich dies genauer an, so muss sich aus Estlunds Argumentation sogar ein Vorteil für Scholastokratien ergeben, da hier zumindest epistemische Vorteile erkennbar sind. Um eben diese wird es im folgenden Kapitel gehen, ebenso wie um einige der Zugaben, die Estlund für die Stärkung seiner Argumente gebraucht hat.




II Ein politisch wertvolles und epistemisch relevantes Konzept von Bildung

Ein großes Problem und gleichzeitig Grund so vieler Spekulationen um die Folgen, sind die Begriffe „Weisheit“ und „Bildung“. Um eine Skizzierung dieser Begriffe im politisch relevanten Sinne soll es in diesem Abschnitt gehen.
Dies ist auch dahingehend wichtig, um die von Estlund vorgebrachten Probleme angehen zu können, die zwar nicht gegen epistokratische Ideen allein geltend gemacht werden aber doch in einem unfassenderen Sinne latent vorhanden sind.
Gemeint ist die Bevorteilung bestimmter, sich aus der Lebenswelt ergebender Perspektiven durch die Gruppe der Gebildeten. Estlund führt vor allem Rassismus und Sexismus und später weitere, schwächere Formen von Diskriminierungen an, die vor allem auf bestimmte Vorlieben verweisen (sexuell, religiös, ästhetisch).
Bezeichnend ist dabei, dass eine der nachwievor gravierendsten Unterdrückungsbereiche nicht erwähnt wird, der Speziesismus. Zumindest offiziell gelten in den meisten westlichen Ländern Rassismus und Sexismus innerhalb der gesellschaftlichen Konventionen als überwunden (ich will dabei jetzt nicht auf die Probleme von normativer Setzung und Realität eingehen, sondern der Einfachheit halber sei dieses Problem übergangen). Unbestreitbar ist hingegen, dass die speziesistische Weltdeutungen und damit Unterdrückungen noch lange nicht in den gesellschaftlichen Konventionen aufgebrochen wurden. Zwar scheint es so, als bewege sich die Gesellschaft langsam darauf hin, jedoch verbreitete sich die Erkenntnis von der unrechtmäßigen Unterdrückung basierend auf sozial konstruierten Speziesgrenzen anfangs vor allem innerhalb von Schichten erweiterter Bildung, Intellektualität und emotionaler Intelligenz, lange bevor dies mehrheitsfähig ist. Ähnliches ist letztlich historisch auch für den auf Rassismus bezogenen Abolitionismus erkennbar. Die soziale Unsichtbarkeit, um mit Honneth zu sprechen, ist damit sowohl weiterhin ein weit verbreitetes Problem und Phänomen.4
Moralischer Fortschritt und die hier relevante Vorstufe, der Aufbruch sozialer Unsichtbarkeit, die Erweiterung um neue Perspektiven, benötigen in der Regel Zeit, um konsensfähig zu werden. Dies würde nun (mindestens aus Sicht der Opfer, aus der Perspektive der Übersehenen) ausdrücklich für scholastokratische und/oder epistokratische Ideen sprechen, sofern den gebildeteren Schichten ein zumindest graduell größeres soziales Sichtfeld zuerkannt werden kann.
Dies ergibt, dass es einerseits empirisch erwiesen scheint, dass die Gefahr existiert, dass die Herrschenden die Bedürfnisse der Beherrschten gern übersehen oder ihre eigenen höher bewerten.
Die Herrschenden sind, bezogen auf den Speziesismus, wie auch auf andere -ismen aber letztlich immer die Gesellschaft, die sich selbst diesen „Anderen“ vorenthält und nicht die Regierung innerhalb dieser. Innerhalb dieser Gesellschaft existiert aber ein diese Konventionen durchbrechender Kern, der, sieht man sich die Entwicklung der modernen Tierrechtsbewegung seit der Frühen Neuzeit an, zu einem wichtigen Teil aus gebildeten „Eliten“ besteht, was sich sicherlich auf die zum Teil ausgebildetere Fähigkeit zum Erkennen und Hinterfragen der Sollgeltung gesellschaftlicher Konventionen zurückzuführen ist, die sich aus der Ausbildung und dem Selbstverständnis als Motor ergibt.
Zur Behebung solcher Missstände müssen auch nicht alle Minderheiten in der Regierung vertreten sein oder auch nur zur Wahl zugelassen werden, zumal es, wie das Beispiel des Speziesismus zeigt, Minderheiten gibt, denen die Verteidigung der eigenen Bedürfnisse im politischen Rahmen immer verwehrt bleiben wird (ebenso Säuglinge, Kinder, geistig Behinderte).5
Auch und besonders eine Demokratie kann diese Probleme also nicht aus sich selbst heraus verhindern und wirkt sogar verzögernd, sofern sie der Quantität größere Bedeutung als der Qualität beimisst, da in diesem Fall erst die numerische Majorität überzeugt, „aufgeklärt“ werden muss.
Diese zeitliche Verzögerung lässt sich nun durch mehrere Punkte minimieren. Einer dieser Punkte trägt dem Umstand Rechnung, dass gerade bestimmte „Eliten“ zeitiger solche Unsichtbarkeiten und unhinterfragt Gegebenes durchschauen können, was anscheinend an speziellen Fähigkeiten und Eigenschaften dieser „Eliten“ zu liegen scheint. Zu diesen gehören, zumindest theoretisch, etwas, dass als „moralische Reife“ bezeichnet werden soll, sowie das Prinzip der „Selbstreflektion“.
Kern der moralischen Reife ist dabei das Hinterfragen gesellschaftlicher (sozialer und sittlicher) Konventionen, die Anwendung der kritischen Ebene des Denkens auf die intuitive Ebene gesellschaftlich-sittlichen Handelns, wie dies Hare in seinem Aufsatz zum Universellen Präskriptivismus ausführt.6 Dafür ist nun in der Tat formale Bildung nicht ausreichend, da diese in der Regel gesellschaftliche Konventionen eher übernimmt statt sie zu hinterfragen.7
Vielmehr sind die zwei genannten Punkte wichtig, die zunehmend in Wechselwirkung zueinander treten: die moralische Entwicklung und die Ausbildung der (Selbst-)Reflektion und damit die Entwicklung hin zur Mündigkeit oder besser zu zwei der wichtigsten Grundlagen dieser. Beides, eine möglichst hohe moralische Stufe, die sich an den reflektierten Begründungen orientiert und sich von Autoritäten (ohne einem primitivem Anti-Autoritarismus zu verfallen) und gesellschaftlichen Konventionen als dogmatische Begründung löst8, das scheinbare natürlich Seiende der Gesellschaft nicht zugleich zum Sollenden macht9, wie auch ein möglichst hoher Grad an (Selbst-)Reflektion werden in der Regel nur durch eine profunde Ausbildung und Förderung dieser Fähigkeiten erreicht, die selbst Universitäten bisher nur recht spärlich bieten (können). Beides setzt voraus, sowohl den eigenen Willen erkennen und sich weitestgehend von den Determinanten zu lösen (sowohl sozial-strukturelle, als auch praktische und sich aus dem eigenen Selbstentwurf ergebende), als auch sich selbst im Denken so weit es geht außerhalb der Gesellschaft und ihrer, sowie der eigenen, gewachsenen Gewissheiten zu setzen.10
Letzteres ist etwas, dass sich passend in dem bereits angeführten Zitat aus Mills Werk formuliert findet: „Sie glauben, daß die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, daß ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen.“11
Darauf aufbauend muss aber die Universität, auch um die Gefahr einer sich selbst genügenden „Elfenbeinturmmentalität“ zu verhindern, dazu befähigen ihre eigenen Institution und Wissensorganisation, ihre eigenen Regeln, Konventionen und Gewissheiten zu hinterfragen befähigen.12 Ebenso und dies scheint mir ein reales Problem, muss die Reflektion der akademischen Welt dazu führen können, die teilweise auftretende Probleme einer in sozialen Angelegenheiten unterentwickelten akademischen Elite, die sich aus der Notwendigkeit starker Egos in der Art der gegenwärtigen Organisation der Wissenschaft ergibt, zu überwinden.

Es ist also nicht die Bildung selbst, die „wertvollere“ Meinungen, im Sinne reflektiertere hervorbringt, sondern etwas, dass in ihrem Zuge dazu führen kann. Um erneut mit Adorno zu sprechen, benötigt es „Intellektuelle statt bloße Fachmenschen“13 und damit eine Erziehung zum Zwecke der „Herstellung eines richtigen Bewusstseins“.14
Selbstreflektion, so wie sie hier verstanden werden soll, ist nun gewiss kein Synonym für Weisheit, jedoch eines ihrer Bestandteile. Erst durch sie wird auch Bildung besonders relevant, da formales Wissen nun nicht mehr unreflektiert angeeignet und gebraucht wird. Somit ist ein epistemischer Mehrwert durch eine solche Ausbildung und Förderung klar erkennbar, zumal automatisch die aufgerechneten negativen Aspekte abgeschwächt werden. Die Erkenntnisse die produziert werden sind somit „wahrer“15, befreiter und die eines mündigeren16 Geistes, da sie weniger verzerrenden Beschränkungen unterworfen sind. Den Fragen, denen so Rechnung getragen werden soll, sind auch solche nach Willensfreiheit und Determination. Wenn sich in diesen Bereichen durch die Ausbildung der genannten Fähigkeit Vorteile ergeben, so haben diese Auswirkungen auf den epistemischen Wert der gewonnenen Aussagen und damit auch auf deren politischen Wert.
Bildung in dem hier skizzierten Sinn ist also gerade fähig, die von Estlund vorgebrachten Probleme abzuschwächen, da diese sich aus einer an die jeweilige Lebenswelt gebundene Perspektive ergeben. Bildung in einem richtigen Sinne soll, in Anlehnung an Adorno aber gerade dazu verhelfen, aus der lebensweltlich eingeschränkten Perspektive auszubrechen.
Dabei kommt formaler Bildung im Anschluss ebenso eine wichtige Funktion zu. Ohne gewisse Wissensbestandteile, je nach Fragestellung detaillierter, ist in vielen Fragen überhaupt kein sinnvoller Standpunkt, keine Meinung möglich. Dabei steigt zudem die Gefährlichkeit unzureichender Bildung, je weniger das Individuum über Selbstreflektion verfügt, da Halbwissen Gewissheiten produziert und diese verteidigen lässt.17
Dabei ist auch hier zu beachten, dass Mill nur von einem Übergang spricht. Das Ideal bleibt die möglichst hohe Bildung aller und, um es zu erweitern, eine Ausbildung von moralischer Reife und Selbstreflektion.
Sofern dieser Zustand aber nicht erreicht ist, kann ein möglichst hohes Maß an Bildung mit dazu gehöriger Reflektion und moralischer Reife theoretisch ein zeitlich begrenztes, ungleiches Wahlrecht begründen, um den sozialen Unsichtbarkeiten und unreflektiert herrschenden gesellschaftlichen Konventionen auch numerisch etwas entgegenzusetzen und so, ganz im Sinne Mills, Vorherrschaft der exklusiven Gesellschaft zu unterbinden.
Differenziert werden sollte dabei allerdings auch nach der Art der Wahl um die es geht, wie beispielsweise die Wahl eines Repräsentanten, um Grundsätze einer Gesellschaft oder um konkrete Handlungen oder Projekte. Je nachdem, um was es sich handelt, bekommt Bildung einen anderen Stellenwert. So kann bei konkreten Projekten vor allem detailliertes Fachwissen gefragt sein. Besonders in diesem Bereich scheint es unsinnig Stimmen gleich zu gewichten, so dass Fachleuten mehr Stimmen zugedacht werden könnten, insofern ein Diskurs nur eingeschränkt möglich ist. Da von Frage zu Frage die Fachleute wechseln, wäre theoretisch ein relationales Wahlrecht sinnvoll, das Fachleuten in ihren jeweiligen Gebieten mehr Stimmen zugesteht. Dabei sind aber gerade bei alleinigem Fachwissen die negativen Features latent. Noch sinnvoller scheint daher eine generelle Abkehr von quantitativen Wahlen hin zu qualitativen Modellen wie dem Diskurs, über den im nächsten Abschnitt noch gesprochen werden wird und der nicht mehr die Stimmen zählt, sondern die Argumente gewichtet.
Ähnlich wie bei der konkreten Projektfrage sieht es aber auch bei den Repräsentanten, den „Herrschern“ und deren Beamten selbst aus.
An praktisch alle Fachleute in der Gesellschaft werden, freilich sehr unterschiedlich ausgeprägt, spezielle Anforderungen an ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und teils an ihr sittliches Verhalten gestellt, mit Blick auf gewählte Vertreter gibt es solche Richtlinien aber kaum, allenfalls vage. Besonders in diesem Bereich könnte Mill argumentieren. So scheint es prima facie sinvoll nur solche Personen zur Wahl zuzulassen, die über bestimmte Fähigkeiten verfügen.18
Misst man Bildung, Selbstreflektion und moralischer Reife, oder, um es in Mills Worten auszudrücken „geistiger, moralischer und tätiger Kraft“, politische Bedeutung zu, so muss man dies konsequenterweise auch bei denen, die gewählt werden können, nicht nur bei der Wahl selbst, um den epistemischen Mehrwert nicht wieder zu verlieren:
„Die Regierung besteht aus Handlungen, welche von Menschen verrichtet werden und wenn die Handelnden, oder die, welche sie wählen, oder die, denen sie verantwortlich sind, oder endlich die Zuschauer, deren Meinung alle diese Personen beeinflussen und in Ordnung halten sollte, bloße Massen von Unwissenheit, Beschränktheit und jämmerlichem Vorurtheil sind, so wird jedes Unternehmen der Regierung einen schlechten Ausgang nehmen, während in demselben Maße, als die Menschen sich über diesen Zustand erheben, auch die Regierung immer besser wird und schließlich jenen Punct der Vortrefflichkeit erreichen kann, wenn sie ihn auch noch nirgends erreicht hat, wo ihre Beamten, selbst ausgezeichnet durch überlegene Tugend und Einsicht, von der Atmosphäre einer tugendhaften und aufgeklärten öffentlichen Meinung umgeben sind.“19
Besonders von der Regierung selbst muss also erwartet werden können, die kommunizierten Bedürfnisse zu relativieren und die Argumente zu verstehen, wie auch die gesellschaftlichen Konventionen zu hinterfragen, also über die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten zu verfügen. Um eine Gesellschaft führen zu können, muss sie soweit es geht durchschaut werden können, ihre Mechanismen müssen den Regierenden bekannt und durch diese nachvollziehbar sein. In diesem Sinne wären also Sozialwissenschaftler sicherlich geeignetere Kandidaten als Juristen. Dies soll jedoch nur einen ersten Gedanken darstellen, der hier nicht weiter verfolgt werden soll, da es sich bei den notwendigen Voraussetzungen für Regierungsämter um ein eigenes Thema handelt, dass allerdings dringend eingehender Beschäftigung bedarf.

III Der Diskurs als scholastokratisches Element und epistokratisches Argument

Wie bereits angedeutet, gibt es mehrere Möglichkeiten Bevorteilungen, bzw. Benachteiligungen zu verhindern. Zwei dieser Möglichkeiten sollen hier erläutert werden. Einerseits handelt es sich um den Diskurs, der sowohl den „wahren“ Vorteil der Demokratie, als auch den Vorteil der Epistokratie vereinen kann. Andererseits benötigt auch dieser zwei weitere Grundsätze, nämlich die Erweiterung um Advokaten und die Erweiterung um ein weitergehendes Gleichheitspinzip. Zum Verständnis und zur Einordnung sei noch angemerkt, dass sich der zu erweiternde Diskurs in dieser Arbeit an Habermas' Modell orientiert.

Zuerst gilt es festzuhalten, dass auch Mill einen Diskurs als Mittel anspricht, sowohl die Vorteile einer für ihren Zweck besonders (aus)gebildeten Regierungselite, als auch die Vorteile einer qualitativen Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit, zu sichern. Die Repräsentativregierung im Sinne Mills überwacht die von den Experten ausgearbeiteten Gesetze und stellt eine für alle zugängliche Öffentlichkeit her, in der sich jedes der Gesetze rechtfertigen muss. Mill bleibt dabei aber inkonsequent, in dem der Diskurs auch der tatsächlich vorhandenen Mehrheit Gewicht beimessen soll und so seinen eigentlichen Vorteil teilweise wieder aufgibt.20
Allerdings führt Mill ebenso aus, dass zwar das Stimmgewicht von Gebildeten und Ungebildeten auch innerhalb des Parlaments gleich sein soll, die größere Weisheit aber zu einem großen Einfluss in der Diskussion führen müsse, dem sich die Majorität, so Mill implizit wird beugen müssen.21 Die „Volksmeinung“ soll so in den „Schranken der Vernunft und Gerechtigkeit“ gehalten werden. Grundsätzlich spricht er sich damit, trotz Einschränkung, für eine qualitative Ausrichtung aus, wenn diese auch letztlich mehr auf Hoffnung auf Einsicht zu basieren scheint.
Auch Estlund erwähnt den Diskurs. Im Gegensatz zu Mill versteht er ihn im Sinne eines deliberativen Elements, dass zur Stärkung epistokratischer Ideen gebraucht wird, denen Mill ablehnend gegenüber steht.22 Estlund begegnet mit dem Verweis auf den Diskurs dem Einwand, dass epistokratische Systeme allein auf die Herrschenden und deren Perspektive beschränkt sein müssen. Im Diskurs kommt es zu einer Beratung mit allen anderen und zu einer Einbeziehung von deren Perspektiven, so dass es daher nicht wie bei Mill und anderen vermutet, zu einem Rückgang an Mitbestimmung und Interesse führen muss, da eine Beteiligung und Einflussnahme über diesen auf die regierende Schicht durchaus möglich ist.
Dabei wird sowohl von Estlund, als auch von Mill anscheinend übersehen, dass der Diskurs, so er wirklich durchgeführt wird, von seinem Wesen her letztlich selbst epistokratischer und/oder technokratischer Natur ist, da es in diesem nicht zu einer quantitativen Problemlösung kommt, sondern zu einer qualitativen.
Im Diskurs „gewinnt“ laut theoretischem Konzept das beste Argument, wodurch besonders gebildete und „weise“ Personen automatisch bevorzugt werden. Gleichzeitig werden aber die Perspektiven der „Anderen“ nicht ausgegrenzt, wie dies Estlund richtig annimmt. Diese und hier liegt ein Vorteil, können jedoch in einem qualitativen Diskurs nicht einfach eine Position durch bloße Quantität kippen. Gleichzeitig und trotzdem können sie sich aber mit ihren Bedürfnissen und Interessen qualitativ einbringen, in dem sie diese kommunizieren und, da der Diskurs alle Betroffenen beachten muss, erfahren somit automatisch Berücksichtigung.
Im Gegensatz zu quantitativen Entscheidungsprozessen besteht im Diskurs nun aufgrund der qualitativen Ausrichtung die Möglichkeit auch bei mangelndem Verständnis der Umstände und mangelnder Selbstreflektion der Vorbringenden, die Bedürfnisse zu korrigieren und gegen andere abzuwägen. Viel wichtiger ist dabei noch, dass diesen Mängeln durch einen angeregten Perspektivwechsel, der theoretisch ein wichtiger Bestandteil der diskursiven Einigung ist, abgeholfen werden soll und kann. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass gerade die Verbindlichkeit des besseren Arguments dazu animieren kann, dass sich der Einzelne intensiver mit dem Thema beschäftigt, bei dem er mitreden möchte, statt sich damit zufrieden geben zu können, seine etwaigen bloßen Vorurteile von vornherein mit Stimmrecht und Bedeutung ausgestattet zu sehen. Der Diskurs kann also mit seinen qualitativen Bedingungen einer Partizipation dazu führen, Mündigkeit zu stärken.
Der Diskurs und damit der zwingende Austausch, ist ebenso ein Mittel, um gebildete Schichten und vor allem die s.g. akademische Elite vor sich selbst zu bewahren, in der bereits angesprochenen Hinsicht, in dem der Diskurs sich der teilweise zu starken Egozentrierung entgegenstellt und Fähigkeiten der sozialen Interaktion fordert und fördert.

Neben den bisher genannten Vorteilen verfügt der Diskurs allerdings noch über Schwächen, die es zu beheben gilt, so dass im Folgenden am Beispiel der moralischen Urteilsfindung und der sozialen Unsichtbarkeit anderer Spezies noch etwas genauer auf diesen eingegangen werden muss.
Eines der Probleme an Habermas' Modell sind zwei implizite Gleichsetzungen, die es aufzuheben gilt. Die erste ist die Gleichsetzung der Begriffe „Mensch“ und „Person“. An der Genese23 und Überprüfung moralischer Normen innerhalb seiner Diskursethik sollen alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte teilnehmen.24 Dies umfasst aber eben gerade nicht alle Individuen der menschlichen Spezies.
Einige davon sind in Habermas' Sinne genauso wenig sprach- und handlungsfähig wie viele Tiere oder anders ausgedrückt, viele Tiere sind genauso sprach- und handlungsfähig wie einige Menschen. Gleiches gilt für den für Habermas so wichtigen Begriff der Reziprozität. Konsequenterweise müssten nun also entweder Menschen mit bestimmten geistigen Behinderungen, Komatöse, Demente, Säuglinge, usw. aus dem Diskurs ausscheiden oder viele Tiere aufgenommen werden. Der Begriff „Sprachfähigkeit“ ist einfach zu ungenau definiert.
Werden alle im engen Sinne sprachfähigen Subjekte in den Diskurs integriert, fällt zwar nicht gleich der anthroprozentrische Anspruch aber eine Erweiterung über die Spezies hinaus muss bereits vorgenommen werden. Schimpansen wie Washoe, die sich zumindest rudimentär über Zeichensprache verständigen zu können scheinen, müssten teilnehmen dürfen. Aber auch das wäre nicht die letzte Konsequenz.
Habermas selbst bemerkt nämlich richtig, dass Kommunikation mehr als Sprache umfasst.25 Für abstrakte Diskussionen ist eine komplexe Sprache zwar unablässig, für die Forderung nach Anerkennung von Interessen jedoch nicht. Der Bereich der nonverbalen Kommunikation ist weitaus umfangreicher und universaler. Auch im menschlichen Umgang müssen wir uns auf diesen beschränken, wo wir die Sprache des anderen nicht verstehen. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass ein Großteil der wichtigsten, vor allem auch lebenswichtigen Interessen nonverbal kommuniziert werden kann und wird. In dieser Hinsicht sind sich Menschen und viele Tiere sehr ähnlich, sie auszuschließen und das Erlernen nur menschlicher Sprachen zu akzeptieren, liefe auf speziesistische Grundannahmen hinaus. Wenn Sprachfähigkeit oder Kommunikation als Grundlage gilt, dann muss sie umfassend gelten und Kommunikation ist bis zu einem gewissen Grad mit jedem Lebewesen möglich. Ein Tier, dass sich gegen Schmerz wehrt, kommuniziert ebenso, wie dies ein Mensch in einer solchen Situation tut. Beide bekunden in verschiedenen und gleichen „Sprachen“, auf verschiedenem und gleichem Wege ihr Interesse an der Beendigung dieses Zustandes.
Damit allerdings noch nicht genug, wird der Diskurs letztlich nicht mal von allen Personen geführt. Das beste Argument soll „gewinnen“.26 Dies bedeutet aber implizit, dass die moralischen Regeln von einer Minderheit bestimmt werden, da mehr als Sprach- und Handlungsfähigkeit oder „praktische Vernunft“ von Nöten ist, um vernünftige, bzw. konsistente und konsequente Argumente zu bilden. Ein recht hohes Mindestmaß an Reflektions- und Abstraktionsvermögen, sowie Intelligenz (auch emotionaler) sind nötig, um sinnvoll zumindest an dem Begründungsdiskurs von Normen teilzunehmen. Mit anderen Worten ausgedrückt: nur Personen, die auch innerhalb der moralischen und kognitiven Entwicklung weit genug sind, nehmen faktisch aktiv am Diskurs teil.27
Der Rest muss sich praktisch auf die Formulierung seiner Interessen beschränken, die noch dazu unreflektiert bleiben. Diese Beschränkung muss allerdings nicht zwangsweise negativ gewertet werden. Theoretisch entscheidet hier die Qualität und damit mit gewisser Wahrscheinlichkeit gut durchdachte Konzepte und moralische Fortschrittlichkeit.

Es ist also festzustellen, dass nicht alle Menschen Teil des Diskurses sind und noch weniger über die bloße Formulierung ihrer Interessen hinaus gehen. Bei der Genese und Überprüfung von Normen ist dies, wie bereits erwähnt, nicht zwangsweise negativ und kann über die starke Bedeutung der Begründung und der Reflektion sogar äußerst positiv. Die eigentliche Problematik tritt erst auf, wenn die zweite Gleichsetzung Habermas' ins Spiel kommt.
Diese besteht darin, die Menge derer, die am Diskurs teilnehmen, mit der Menge derer, die von Moral und Normen betroffen sind, gleichzusetzen. Dies ist offensichtlich falsch. Nicht alle Menschen nehmen im Sinne Habermas' am Diskurs teil. Aber diese sind, genau wie Tiere, von Moral und Normen betroffen. Sie sind keine moralischen Subjekte aber doch Objekte. Habermas selbst schreibt: „Der praktische Diskurs erfordert die Einbeziehung aller jeweils berührten Interessen und erstreckt sich sogar auf eine kritische Prüfung der Interpretationen, unter denen wir bestimmte Bedürfnisse als eigene Interessen allererst erkennen.“28 Wenn nun aber alle betroffenen Interessen und Bedürfnisse einbezogen werden sollen, dann auch jene der moralischen Objekte, nicht nur der moralischen Subjekte, zumal Folgen und auch Nebenwirkungen beachtet werden sollen und zumindest in letzterem müssen sich die berührten Interessen von Nichtdiskursteilnehmern finden.29 Um auch solche, wenn auch vorerst nur menschliche, in den Diskurs aufzunehmen, spricht sich Weisshaupt für die Übernahme der Verantwortung durch Vertreter aus: „Ist aber Reziprozität faktisch nicht herstellbar und auch nicht denkbar, wie dies bei schwer geistig Behinderten und in gewisser Weise auch bei betroffenen aber nicht diskursfähigen Embryonen der Fall ist, so ist Verantwortung stellvertretend zu übernehmen. Die Stimme der Abwesenden, das ist die Stimme aller zum Diskurs aus prinzipiellen Gründen nicht Fähigen, ist stellvertretend stark zu machen und in den Diskurs einzubeziehen.“30
Anstatt also den Kommunikationsbegriff zu erweitern, sollen Advokaten die Interessen aller nicht am Diskurs beteiligten vertreten. Dies gilt für Föten, Säuglinge, geistig Behinderte, usw., allerdings gibt es dann keinen Grund, warum nicht auch für Tiere, denn auch diese sind Betroffene. Diese advokatorische Alternative birgt aber Gefahren. Sie macht die Gruppen von den Advokaten abhängig. Nur die Gruppe, die über einen verfügt, wird gehört, nur die, die einen guten hat auch berücksichtigt.

Um Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten könnte ein zweiter Zusatz aufgenommen werden. Bei diesem handelt es sich um das durch Singer geprägte Prinzip der gleichen Interessenabwägung, dass in den Diskurs integriert auf alle ausgedehnt werden muss, die Interessen haben.31 Dies behebt die Probleme des Diskurses mit all jenen, die Interessen haben aber in der Mehrfachbedeutung von „sprechen“ dies eben nicht können. All jene die über Interessen verfügen, sind durch Moralvorstellungen und Handlungen betroffen, also müssen alle jene auch berücksichtigt werden.
Habermas unternimmt zwar einen Versuch, auch Tiere und Ökologie und damit wohl auch allen nichtpersonellen Menschen Schutz zu gewähren, schafft dies aber schlicht nicht. Es reiche, eine moral-analoge Haltung einzunehmen, da wir Tieren ähnlich Personen gegenübertreten und auch sie in einer Gemeinschaft mit uns und somit in einem Netz aus reziproken Verletzbarkeiten und exponierten Schutzbedürftigkeiten leben und deswegen geschützt werden müssen.32 Praktisch bleibt er inkonsequent, denn Haustiere werden qua ihres Zweckes für und ihrer Nähe zu uns bevorzugt, Nutztiere, die aber ebenfalls eine Art Gemeinschaft mit uns bilden, bleibt dies aber versagt, sowie allen Tieren, denen „[...] Menschen in ihrer Rolle als Angehörige einer Spezies […] als Exemplaren einer anderen Spezies gegenübertreten.“33
Habermas bleibt eine Erklärung schuldig, warum die Spezieszugehörigkeit hier ein Tötungsrecht implizieren sollte oder den generellen Ausschluss aus moralischen Betrachtungen und wann genau dies der Fall sein sollte.

Der so erweiterte Diskurs bietet nun Schutz gegen einige der anti-epistokratischen oder anti-schloastokratischen Einwände. Sein Vorteil ist die Einbeziehung aller Interessen und aller möglichen Argumente, sowie die Beförderung von Perspektivwechseln bei der gleichzeitigen qualitativen Abwägung, so dass die Masse an Vorurteilen verhindert werden kann. Selbst die auch von Estlund so selbstverständlich übersehene Bevorteilung der eigenen Spezies kann so überwunden werden.
Dabei ist der Diskurs als Begründungs- und Legitimationsinstanz selbst, je nach Sichtweise, epistokratisch, technokratisch oder auch nur scholastokratisch ausgerichtet.

Aus dem Bisherigen heraus gilt es nun Folgendes zu bedenken: Quantitative Abstimmungen einer immer notwendig exklusiven Gruppe mit gleichem Stimmgewicht ohne Bewertung der Grundlagen muss notwendig davon ausgehen, dass die egoistischen Interessen dieser exklusiven Mehrheit, die insgesamt eine Minderheit der Betroffenen bildet, gleichzeitig das Beste für alle sind, um sich überhaupt legitimieren zu können. Gerade weil die Partizipierenden immer eine Minderheit sind, nie die Gesamtheit abbilden können, handelt es sich in dieser Hinsicht bei einem ungleichen Stimmrecht oder höheren Bedingungen für Wählbarkeit nur um eine graduelle Veränderung statt, wie oft gemeint, um eine kategorische. Kategorisch ändert sich jedoch die Nutzung der Potentiale, die Beachtung der tatsächlichen Gegebenheiten, die sich in einer stärkeren Bändigung des Egoismus und der von Estlund angesprochenen Probleme äußern kann. Dies wird nicht zuletzt durch eine Aufwertung der qualitativen Argumente, wie sie beispielsweise im erweiterten Diskurs stattfindet, erreicht und die somit den Hintergrund, wie auch die Meinung selbst kritisch reflektiert. Es ist somit nichts mehr, als der Versuch, aus dieser partizipierenden Minderheit die Mehrheit der rein egoistischen und unreflektierten Interessen herauszufiltern, um so erst wirklich einen Versuch zu unternehmen, des Despotismus einer Minderheit zu brechen.

IV Epistokratie und Rawls Prinzip der allgemeinen Akzeptanz – einige Gedanken

Zumindest auf den ersten Blick scheint theoretisch das Konzept einer deliberativen Epistokratie auch die Rawlssche Hürde der rationalen Zustimmbarkeit erfüllen zu können, da sich der epistemische Mehrwert auf diese Weise nicht vollständig gegen die von Estlund vorgebrachten features aufrechnen würde. Das eine letzte Gefahr in dem Sinne bleibt, dass die „Gebildeten“ aus ihrer Bildung selbst heraus Vorurteile entwickeln, lässt sich nicht völlig abstellen, jedoch ist weder klar, ob dies negative Auswirkungen hat und zum Anderen ist dies der Preis, den man zahlen muss, sofern man Bildung als politisches Ziel überhaupt formuliert.
Hinzu kommt, dass es bei allem vorbestimmt intuitiven Widerstand bei näherer Betrachtung nicht so ist, dass paternalistisch anmutende, Mündigkeit relativierende Ideen etwas besonderes in der Gesellschaft sind. Sie werden fortwährend angewandt, nicht zuletzt in der Erziehung von Kindern und hier zeigt sich der Kern des Widerstandes gegen solche Ideen. Aus Sicht des Erwachsenen, nehmen wir ihn einmal als mündig an, müssen dem Kind bestimmte Grenzen gesetzt, sein vermeintliches Wollen unbedingt gehört, beachtet aber doch relativiert, es zur Selbstreflektion erst einmal angetrieben werden, um sich dann im Zuge dieses Prozesses selbst bestimmen zu können. Das Kind jedoch begehrt dagegen auf. Und es lassen sich vernünftige Argumente für die Förderung dieses Aufbegehren als Triebkraft zur Mündigkeit finden, zugleich jedoch lässt sich das Ziel dieses Aufbegehrens vernünftig vorenthalten und wird dies völlig selbstverständlich in der Gesellschaft auch in akzeptierter Weise zumindest zeitlich bis zu einem gewissen Punkt. Dabei wäre auch hier nicht nur formale Bildung vonnöten, sondern vielmehr das bereits Angesprochene. Sobald nun jedoch eine historisch gewachsene aber letztlich willkürlich gesetzte Anzahl an Lebensjahren überschritten wird, das Individuum einmal mündig erklärt ist, sollen die gleichen Argumente nicht mehr gelten dürfen, ganz so, als ob die Erreichung einer bestimmten Anzahl an Jahren unwideruflich einen Hebel umgelegt hätte, der eine Person kategorisch vom vorher unmündig erklärten Kind trennt, alles bis dahin Erreichte, ohne Ansehung der Qualität als ausreichend deklariert, um kein Intellekt mehr über ihm dulden zu müssen und zu können.34 Hierin findet sich der eigentliche Widerspruch: die Anerkennung von höherer Weisheit als etwas allgemein akzeptiertes, solang sie die Person nicht selbst betrifft. Über diesen Punkt und die zugrunde liegenden Mechanismen gilt es besonders nachzudenken, bevor über die allgemeine Akzeptanz epistokratischer Ideen praktisch entschieden werden kann. Dabei wäre, das Gesagte zusammengefasst, vielleicht die generelle Notwendigkeit eines Begriffs von relationaler Mündigkeit gegeben, der hier aber nicht ausgeführt werden kann und soll.
Die Ablehnung einer höheren Einsicht als gleichzeitig mit höherem politischen Gewicht, liegt sicherlich nicht zuletzt auch in dem in dem Postulat der Mündigkeit notwendig enthaltenen Postulat des freien Willens und einer Überbetonung dessen, die aus Gründen des Selbstverständnisses nicht zuletzt zu einer latenten Feindlichkeit gegenüber allen deterministischen Theorien und sinnvollen Folgerungen aus diesen geführt hat. So wird die absolute Willensfreiheit bis aufs Messer gegen jeden Relativismus verteidigt. Dieses verdinglichte Bewusstsein, dass sich selbst als natürlich und als natürlich legitimiert, nicht als geworden sieht35, gilt es zu überwinden statt mit dessen Grundlage politische Theorien zurückzuweisen. Reflektierte, vernünftige Anerkennung ist die Grundlage das Rawlssche Prinzips, nicht reale Unvernunft.

Fazit

Anhand der bisherigen Argumente sieht es nun so aus, als ob der epistemische Wert einer Epistokratie oder der schwächeren Form der Scholastokratie, gesichert werden kann, wenn als deliberatives und legitimierendes Element der Diskurs hinzukommt, zumal Estlunds Einwände, wie bereits gezeigt wurde, nicht zutreffend, bzw. nicht als Gegenargumente verwertbar sind.
Ergebnis einer solchen Sicherung könnte damit ein Modell einer deliberativen Epistokratie sein. Diese besteht in ihrer moderaten Form vor allem in klareren Anforderungen an die Fähigkeiten von Repräsentanten, einem relativen Mehrstimmrecht in bestimmten Bereichen bei Nichtdurchfürhbarkeit eines Diskurses (insbesondere ein relationales Stimmrecht für Fachkräfte in konkreten Fragen), sowie einer Fokussierung auf qualitativen Legitimationsprinzipien statt quantitativen.
Auf diese Weisen ließen sich die einzelnen Fähigkeiten und das Wissen in einer Gesellschaft optimaler nutzen, ohne die Bedürfnisse anderer zu übergehen. Wichtig bleibt dabei, das Konzept der Gesellschaft ähnlich dem Diskurs zu erweitern.
Damit könnte sowohl die Gefahr des Opferns der Qualität vor der Quantität verringert werden, als auch die egoistische und totale Herrschaft einer sozial konstruierten Gruppe über die „Anderen“. Die Bedürfniskommunikation über Advokaten und einen erweiterten Grundsatz könnte so eine „soziale Unsichtbarkeit“ leichter verhüten. Dies gilt umso mehr, als das das Mehrstimmrecht vor allem die Fähigkeit zur Hinterfragung gesellschaftlicher Konventionen und damit auch von Inklusion und Exklusion als Grundlagen beinhalten sollte.
Das grundsätzliche Ideal bleibt dabei das gleiche wie bei Mill, die „Mündigmachung“ und dafür die Bildung der Gesamtgesellschaft, die zudem nicht auf formale Bildung beschränkt sein darf, sondern Selbstreflektion, Erziehung zur moralischen Reife und nicht zuletzt auch die hier explizit ausgesparte, implizit in der moralischen Reife aber schon angelegte, emotionale Intelligenz und Reflektion36 beinhalten muss.
Verwirklichte Demokratie kann nur als Gesellschaft von Mündigen funktionieren, um mit Adorno zu sprechen. Wo diese aber nicht gegeben ist, kann zu dem Ideal hingewirkt werden aber ohne dabei die Situation zu verkennen und das Mögliche oder Gewollte mit dem Nötigen zu verwechseln. Den Bürger ernst zu nehmen, muss eben auch heißen, ihn in seinen Beschränkungen, uns alle in unseren Beschränkungen ernst zu nehmen. Statt der fortwährenden Postulierung von Mündigkeit, um das System zu legitimieren, muss Mündigkeit endlich ernsthaft als zu erreichendes Ziel ins Auge fassen werden. Wird es weiterhin postuliert, findet keine Reflektion, keine Arbeit hin auf dieses Ideal statt, denn es wird, Realität ignorierend, bereits als erreicht vorausgesetzt und dies ist gefährlich.
Zudem begeht ein gleiches Wahlrecht ohne eine reale Mündigkeit, ohne ein stetiges Hinterfragen der gesellschaftlichen und eigenen Konventionen, wie es sich zur Zeit darstellt, das, was Hare den „deskriptivistischen Fehlschluss“ nennt, eine zutiefst relativistische und moralisch fragwürdige Fehlinterpretation des unreflektierten Seins zum Sollen. Dieser Fehlschluss wird auf diese Weise letztlich immer begangen, selbst dann, wenn der quantitative Mehrheitsentscheid in der Konsequenz mit der Reflektion auf der kritischen Ebene des Denkens übereinstimmt. Auf diese Art befindet sich eine Gesellschaft praktisch immer im moralischen und politischen Konservatismus, der sich fortwährend selbst reproduziert und sich allenfalls extrem langsam oder nur unter großen Schrecken überlebt. Adorno führt ebenso völlig zu Recht aus, dass Ausschwitz auch weiterhin möglich ist, solange das Level an realer Mündigkeit gering ist und dieser Umstand keine Beachtung erfährt. Dabei muss dies nicht auf gleicher Ebene geschehen und ist eher unwahrscheinlich, solange wie das Konkrete noch nachwirkt. Betrachtet man die Gesellschaft aber unter dem Aspekt des Speziesismus, so ist man genötigt Adorno noch weitaus mehr Recht zu geben, als er dies selbst geahnt zu haben scheint.
Dabei gilt es, zusammen mit Mill, das Ideal einer mündigen Gesellschaft zu erhalten und zu fördern, jedoch gilt auch folgendes zu beachten: „Diejenigen indessen, welche sich einer solchen Aufgabe unterziehen, müssen sich nicht nur der Wohlthaten jener Institution, welche sie empfehlen, sondern auch der moralischen, geistigen und thätigen Fähigkeiten, welche ihre Benutzung erfordert, in vollem Maße bewußt sein, damit sie es womöglich vermeiden, ein Wollen anzuregen, das dem Können zu weit voraus eilt.“37
Inwieweit die hier skizzierten Gedanken praktisch umsetzbar sind, wie und ab wann genau jemand ausreichend gebildet im Sinne dieser Arbeit ist und noch gravierender, wie und wie oft dies messbar sein muss, wie ein derart festes, ja schon verselbstständigtes bürokratisches System verändert werden kann, sind andere Fragen, die hier nicht beantwortet werden können, die sich aber besonders im Hinblick auf die willkürliche Setzung von Mündigkeit, auf die hier nur sehr kurz eingegangen werden konnte, stellen müssen. Ebenso suggerieren die hier aus Gründen der Verdeutlichung verwendeten Kategorien „Gebildete“ und „Ungebildete“ eine einfache und eindeutige Trennung und Zuordnung, eine Homogenität in sich, die letztlich realitätsfern bleiben und sich ebenso eher einem relationalen Verhältnis beugen muss.
All dies sind Probleme, große Probleme, jedoch sollte darüber nicht vergessen werden, dass es trotzdem lohnenswert erscheint über die zu ihnen führenden Fragen nachzudenken und das aus einem unperfekten, bestehendem Standpunkt heraus nicht Perfektion gefordert werden muss, sondern eine weniger unperfekte Unperfektion immer schon einen zu begrüßenden Fortschritt darstellt.

Diese Arbeit soll abschließend nicht als Werbung für eine Epistokratie missverstanden werden. Sie sollte zeigen, dass einerseits nicht gegen epistokratische Ideen mit Hilfe erkenntnistheoretischer Überlegungen vorgegangen werden kann, ohne auch andere demokratische Theorien zu treffen oder einseitig auf negative Aspekte zu fokussieren. Andererseits muss es möglich sein gerade in Demokratien über das Ergebnis politischer Systeme nachdenken zu können, statt sich zirkulär im durch Tabus bestimmten Rahmen zu bewegen. Um nun die Probleme, die sich letztlich auch für die Demokratie ergeben, anzugehen, muss keine Epistokratie und dies wäre praktisch wohl auch nicht durchsetzbar, proklamiert werden. Vielmehr kann mit ihrer Hilfe als Gegenmodell überhaupt über Lösungen nachgedacht werden und mithin kann eine Epistokratisierung bisheriger Demokratien Abhilfe schaffen. Dies letztlich zu Entscheiden war aber ebenfalls nicht Ziel dieser Auseinandersetzung, vielmehr besteht ihr Anspruch in dieser Hinsicht darin, die Diskussion jenseits des Rahmens aus Tabus zu eröffnen.


Literatur:

Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873.

Estlund, David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.): Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner, Toronto 2003, S. 53-69.

Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991.

Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität, in: Edelstein, Wolfgang; Nunner-Winkler, Gertrud (Hrsg.): Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt 1986, S. 219-303.

Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.

Honneth, Axel: Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von Anerkennung, in: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, S. 10-27.

Kohlberg, Lawrence; Dwirght, R.Boyd, Levine, Charles: Die Wiederkehr der sechsten Stufe. Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: Edelstein, Wolfgang; Nunner-Winkler, Gertrud (Hrsg.): Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt 1986.

Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010.

Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994.

Weisshaupt, Brigitte: Ethik und die Technologie am Lebendigen, in: Konnertz, Ursula: Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991, S. 75-92.
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1Estlund, David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.): Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner, Toronto 2003, S. 53-69.
2Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873, S. 99.
3Mill, Repräsentativ-Regierung, u.a. S. 93.
4Siehe dazu: Honneth, Axel: Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von Anerkennung, in: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, S. 10-27.
5Die bisherigen Vertragstheorien, die die Grundlage der meisten gegenwärtigen politischen Ideen bilden, können solche Probleme gerade nicht lösen, da sie von gleichberechtigten, vernünftigen und zur Reziprozität fähigen Personen ausgehen. Dies entspricht einem Misbild der realen Verhältnisse und, weitaus schlimmer, führt zu falschen (Wunsch-)Vorstellungen von einer notwendigen Teilhabe vermeintlich aller gleichermaßen an der politischen Partizipation. Dies ist aber weder möglich, noch nötig, noch erscheint selbstredend sinnvoll. Vielmehr gilt es sich an realen Fähigkeiten auch in der Politik zu orientieren. Zu diesem Zweck sind Konzepte von „Mündigkeit“ und Aspekte von Partizipationsfähigkeit neu zu überdenken und alte Dogmen aufzubrechen. Zu Problem und Überarbeitung von Vertragstheorien siehe Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010.
6Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
7Ein Problem, auf das Mehrfach hingewiesen wurde, u.a. auch von Adorno in seiner „Erziehung zur Mündigkeit“.
8Zur Mehrstufigkeit der Moralentwicklung siehe Kohlberg, Lawrence; Dwirght, R.Boyd, Levine, Charles: Die Wiederkehr der sechsten Stufe. Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral. In: Zur Bestimmung der Moral. Hrsg. v. G. Edelstein, Nunner-Winkler. Frankfurt 1986; sowie Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität. In: Zur Bestimmung der Moral. A.a.O. 219-303. Ebenso Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.
Das beste Modell bietet hierbei zugleich die jüngste Bearbeitung in Form des 8-stufigen Ansatzes Schwickerts. Kritisch sei hier allerdings noch angemerkt, dass in diesem Aufsatz davon ausgegangen werden muss, dass mit der höheren Begründung, also der theoretischen Ebene, auch eine höhere Handlungsbereitschaft einher geht, sowie eine größere Wahrhaftigkeit. Allerdings plädiere ich für eine Trennung in moralische Begründung, bzw. moralischen Standpunkt, die die Frage klären, auf welcher moralischen Reflektionsebene eine Person steht und in moralisches Leben, dass die unter den theoretischen Gesichtspunkten ausgewerteten Handlungen hierarchisch benennt, aber in dem Subjekt selbst eine „niedere“ moralische Reflektionsebene annehmen kann. Für die Einfachheit des Arguments soll hierbei aber ein positiver Zusammenhang zwischen Reflektionsebene und Handlungsebene angenommen werden, zumal die höhere Reflektionsebene bessere Argumente für den moralischen Diskurs produziert und daher einen Vorteil genießt.
9Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1971, S. 141. Eine unreflektierte Übernahme gesellschaftlicher Konventionen in den Bereich des Sollens würde sich des „deskriptivistischen Fehlschlusses“ schuldig machen, wie Hare ihn definiert.
10Siehe dazu auch das Problem des verdinglichten Bewusstseins bei Adorno, S. 99.
11Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Zehnter Band, Vermischte Schriften I, Leipzig 1874, S. 28f.
12Adorno, S. 43ff.
13Adorno, S. 32.
14Adorno, S. 107.
15Dabei bedeutet „wahrer“ in diesem Zusammenhang zumindest interperspektivischer, bzw. unperspektivischer, sowie weniger grob sozialisatorischen, kulturellen und auch psychologischen Determinanten aufgesessen und insgesamt wohl fundierter. Dies bedeutet wiederum, dass die Erkenntnisse und die daraus resultierenden handlungsanleitenden Ergebnisse eher auf Argumenten fussen, statt auf lebensweltlich vorakzeptierten Gründen.
16Davon ausgehend das Mündigkeit nichts absolutes oder gar erreichbares wäre, sondern als relationales Prinzip konzeptualisiert werden muss.
17Dabei ist jedoch Wissen generell nie vollständig vorhanden, sondern immer beschränkt zugänglich. Der Grad der Zugänglichkeit kann jedoch erhöht, die Basis verbreitert werden.
18Eine solche Position ist es auch, die Mill bevorzugt. Regierende müssen demnach über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, die über das bloße „handwerkliche“ hinaus gehen. Vgl. Mill, Repräsentativ-Regierung, S. 23 und S. 69f.
19 Mill, Repräsentativ-Regierung, S. 22.
20Vgl. Mill, Repräsentativ-Regierung, u.a. S. 72f, S. 75, S. 84.
21Vgl. Mill, Repräsentativ-Regierung, S. 110.
22Vgl. Estlund, S. 56f.
23Diese ist bei Habermas nur hypothetisch. Vgl. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 34.
24Vgl. Habermas, S. 18.
25Vgl. Habermas, S. 223.
26Vgl. Habermas, S. 154.
27Ausdrücklich dazu Habermas, S. 27.
28Habermas, S. 25.
29Vgl. Habermas, S 42f.
30Weisshaupt, Brigitte: Ethik und die Technologie am Lebendigen, S. 81, in: Konnertz, Ursula: Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991, S. 75-92.
31Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 27ff.
32Vgl. Habermas, S. 223ff.
33Habermas, S. 225.
34Dies gilt freilich eher in Bezug auf den staatsbürgerlichen Status, weniger für die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Dieses Verhältnis wird viel länger durch eine relative Mündigkeit bestimmt.
35Vgl. Adorno, S. 99.
36Nicht zuletzt aufgrund des hohen Anteils von Emotion an Kognition ist dies wichtig, wie neuere Forschungen zeigen. Vgl. hierzu exemplarisch: Von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.
37Mill, Repräsentativ-Regierung, S. 8.