Dienstag, 31. Januar 2017

Die Postmoderne – das unbekannte Wesen

Mit der Postmoderne oder besser dem postmodernen Denken (generell herrscht auch hier ein Pluralismus im Detail vor) kann allgemein der Gegenentwurf zur s.g. Moderne und derer Grundannahmen bezeichnet werden. Diesen modernen Narrativen, Konstrukten, Metaerzählungen und Sicherheiten werden dabei alternative Grundkonzepte gegenübergestellt. Zu diesen Grundannahmen der Moderne zählen deren Ziele, als auch bestimmte, nicht hinterfragte und als gewiss geltende Setzungen, die jedoch deswegen nicht zwingend von allen Vertretern der Moderne auch alle befürwortet werden. Als Beispiel seien „Geschlecht“, „Rasse“, „Wahrheit“, „Spezies“, „Fortschritt“, „Naturwissenschaft“ und „Vernunft“ genannt. Weil diese Annahmen als Sicherheiten gelten, wird die Moderne auch gern als das Zeitalter der Sicherheiten bezeichnet. Demgegenüber präsentiert sich die Postmoderne als Zeitalter der Freiheit, allerdings nicht im Sinne der Moderne, die die Erzählung der Freiheit auch benutzt, sondern am ehesten vielleicht mit Kreativität und Vielfalt übersetzt. Wenn jene Sicherheiten hinterfragt, dekonstruiert und verworfen werden, führe dies nicht ins Chaos, so postmodernes Denken, sondern in eine Kreativität des Schaffens, also eine Freiheit zu entscheiden, was sein soll.
Der Sicherheit wird also die Freiheit gegenübergesetzt, der Wahrheit (denn eine absolute Wahrheit wird abgelehnt, da diese erkenntnistheoretisch nicht begründbar sei) die Perspektive und dem Materialismus die Deutung.
Im Zuge dessen kommt es aber immer wieder zu Missverständnissen, die auch dazu führen können, bestimmte Ideen der Postmoderne für die eigene Agenda zu missbrauchen und dies sogar für modernes und damit auch postmoderner Sicht reaktionäres Denken.
Zwei dieser Missverständnisse möchte ich aufgreifen. Zum Einen geht es um das Thema Wahrheit am Beispiel der Sprechortanalyse und zum Anderen um das Thema Materialität vs Deutung.

1. Sprechort oder wer bin ich eigentlich?

Das postmoderne Denken lehnt den Anspruch absoluter Wahrheiten ab und stellt diesem multiple Perspektiven gegenüber. Ein Grund dafür ist, dass jede Aussage und jede Wahrnehmung standortgebunden, also perspektivisch ist. Es gibt keine nichtgedeuteten Fakten. Ohne das ins Detail auszuführen geht es darum, dass jeder Mensch verschiedene Sozialisationsprozesse durchläuft, in ein kulturelles Setting eingebunden ist, in Normen und Anforderungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte hat, usw. und all dies verändert die Wahrnehmung und damit die Deutung von etwas, denn jede Wahrnehmung ist bereits eine Interpretationsleistung einerseits durch die Hardware des Gehirns (Filter, Einordnung in Muster, usw.) und durch die von der Gesellschaft aufgespielte Software (Anschlussfähigkeit an Erlerntes, Vorurteile, sozio-kulturelle Muster, Einfügen in Erzählungen, usw.). Viele dieser Prozesse laufen unbewusst und automatisiert ab und ein guter Teil kann quasi gar nicht beeinflusst werden. Deswegen spricht man von Perspektive. Diese ist einerseits relativ sozial, sprich, sie wird in s.g. Interaktionsritualen (vom wissenschaftlichen Diskurs bis zum alltäglichen Gespräch) angeglichen, um anschlussfähig und verstehbar zu sein aber auch, um Handlungssicherheit herzustellen. Andererseits bleibt sie relativ individuell, da biografische Erlebnisse sich auf die Muster und die Anschlussfähigkeit ebenso auswirken, wie die unterschiedliche Hardware des Gehirns. Wir können uns also zwar einigen, was „rot“ sei und grundsätzlich zu bedeuten habe aber die Wahrnehmung dessen, was „rot“ ist, wird sich aufgrund der immer mindestens graduell unterschiedlichen Wahrnehmungsgfähigkeit von Farben und Farbnuancen unterscheiden, ebenso wie auch was bestimmte Nebenbedeutungen (schwerer Unfall mit viel Blut, der die Farbe „rot“ zum Trigger macht) angeht.
Wenn es nun aber niemanden gibt, der unmittelbar zur Wahrheit ist, heißt das, wir sind auf eine Verständigung zurückgeworfen, in der relative Einigung erzielt wird. Das ist der Diskurs, der das wichtigste Instrument der Postmoderne ist aber auch hier nicht den Diskursbegriff der Moderne meint. Mit Letzterem ist der vor allem von Habermas entwickelte idealisierte Begriff des Diskurses gemeint, der als Ethik fungiert. Vielmehr ist dem postmodernen Denken der reale Diskurs im Blick, der durch eine Vielzahl an Machtstukturen und -positionen geprägt ist (Foucault, Bourdieu, Kemper, usw.).
Die Perspektivität allen Wissens und die Machtstrukturen jeden Diskurses führen nun zu der Anforderung, sich dessen bewusst zu sein, also der eigenen Perspektive und der eigenen Machtposition. Nichts anderes meint „Sprechort“, wobei ich den Begriff nicht nutze, sondern durch „Selbsthistorisierung“ ersetze. Ziel ist es, sich vor allem in der SELBSTBETRACHTUNG aber auch in der Fremdbetrachtung bewusst zu machen, dass man eine Perspektive und in der Gesellschaft und dem durch die getragenen Diskurs eine relative Machtpostion inne hat (Sprechort), zugleich aber sollte nicht nur dieser Umstand bedacht werden, sondern auch die Position und Perspektive kritisch eingebracht und in der eigenen Historizität erklärt und betrachtet werden, um ihre Wirkung abzuschwächen (Historisierung).
Wichtig dabei ist, dass es KEINEN per se privilegierten Sprechort gibt und da vor dem Diskurs nicht entschieden werden kann, welche Perspektive sinnvoller, besser, zielführender, usw. ist, auch niemand aus dem Diskurs ausgeschlossen werden darf.
Das bedeutet, dass zwar Rücksicht auf Menschen genommen, die sich selbst als betroffen beschreiben und diesen eine wichtige Perspektive zugesprochen werden muss, denn sie haben bestimmte exklusive Erfahrungen gemacht und nehmen eine bestimmte Machtposition ein aber im Rahmen des Diskurses können sie deswegen keinen erkenntnistheoretischen Sonderstatus beanspruchen (davon unbesehen sind besondere psychische Berücksichtigungen). Jede Perspektive, auch die Betroffener, unterliegt Narrativierungsprozessen und damit nicht nur vorgängigen, sindern auch nachgängigen Verzerrungen, Einordnungsmustern, usw., um sie überhaupt ausdrückbar zu machen, wie auch jedes Erlebnis immer aus einer Perspektive heraus wahrgenommen wird, die bestimmte Sachverhalte ignoriert und andere fokussiert. Weil dies so ist, muss es den Diskurs geben und es muss eine kritische Selbst- und Fremdbetrachtung vorgenommen werden. Diese darf aber eben nicht zum a priori Ausschluss führen.
Das heißt nun nicht, dass es keine Hierarchisierung geben kann. So kann die Perspektive dadurch aufgewertet werden, dass sie über einen bestimmte Reflektionsgrad verfügt, umfassender ist oder sich im Diskurs argumentativ durchsetzen kann, was jedoch auch hier keine Ewigkeit beanspruchen kann.
Das epistemische Problem mit den Perspektiven habe ich aber bereits an anderer Stelle im Text "Das kartonierte Sein als Scheinargument und epistemisches Problem plus ein bisschen Geschichtsphilosophie" behandelt. Von daher soll dies hier dazu genügen.

2. Materialismus vs Deutung

Ein weiterer Vorwurf besteht darin, dass das postmodernes Denken die materiellen Verhältnisse übersehe. Dem ist allerdings nicht so. Ähnlich wie im Falle des Diskurses, sind die Bedingungen an dessen Teilhabe und die Machtstrukturen nämlich durchaus im Blick. Was postmodernes Denken zurückweist, ist der historische Materialismus, nicht der Einfluss des Materiellen.
Vereinfacht könnte man sagen, der Welt ist nicht allein damit geholfen, eine materielle Ungleichheit zu beheben, denn sowohl ist deren Ursache eine bestimmte Deutung der Welt, die, wenn sie sich nicht ändert, das Problem nur verschleppen würde, wie auch eine solche materielle Verteilung in ihrer Wirkung von der Deutung abhängt.
Am Beispiel der Armut erklärt liest sich dies wie folgt:
Zuerst zur s.g. „relative Armut“. Nehmen nun an, die Welt besteht aus zwei Orten, an denen Menschen unterschiedlich viel besitzen. Die eine Hälfte ist nun reicher, als die andere. Solange diese beiden Hälften nicht voneinander wissen, gibt es diese Diskrepanz nicht, denn es bräuchte einen Beobachter, der aber nicht existiert. Armut und Reichtum sind dialektisch verbunden. Sie benötigen einander, um überhaupt zu existieren und sie benötigen eine Bewusstsein davon, um überhaupt als ungerecht empfunden zu werden und damit als relevant im Denken und Fühlen der Akteure, um die es geht.
Nehmen wir aber nun an, sie wissen voneinander, dann ist die Frage, warum gibt es diese Ungleichheit. Sagen wir der Einfachheit halber, an beiden Orten sind die Ressourcen unterschiedlich verteilt. Das aber ist nicht der Grund für die relative Armut, denn der liegt darin, dass z.B. die eine Gruppe, obwohl sie darum weiß, diese Ungleichheit aufrecht erhält, der bloße Umstand der Ungleichverteilung hat noch nichts mit Armut oder Ungleichheit im moralischen oder politischen Sinne zu tun, er konstituiert diese nicht, denn erst die Deutung dieses Umstandes als eben z.B. Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit schafft das Problem. Es muss mit dem Wissen zu einem Handeln oder Nicht-Handeln kommen, das in der Regel auf Begründungen beruht, wie Recht des Stärkeren, Natur, bestimmte Ideologien, usw. Solange diese Ideologien, die allererst Armut produzieren nicht überwunden sind, kann eine materielle Umverteilung Ungerechtigkeit nicht bekämpfen, sondern würde sich nur auf weniger kontrollierte Bereiche verlagern. Das bedeutet nicht, dass Umverteilung schlecht ist oder aus postmoderner Sicht nicht vorgenommen werden sollte, sondern, dass diese allein nicht das Problem löst und eine materielle Ungleichverteilung nicht das eigentliche Problem ist.
Hinzu kommt, dass der Materialismus mit vielen Vorannahmen arbeitet, die man ihm vorwerfen kann. Zum Beispiel übersieht er auch darüber hinaus gehende Deutungen. Nehmen wir an, die beiden Gruppen unterscheiden sich in der Menge an Gold. Die eine hat alles, die andere nichts. Sofern die goldarme Gruppe Gold überhaupt keinen Wert beimisst, herrscht auch keine Ungerechtigkeit, zumindest nicht bis zum kulturimperialistischen Eingreifen der goldreichen Gruppe oder einem beständigen Austausch, der zum Angleichen der Weltdeutungen führt. Aber erst dann entsteht auch Ungerechtigkeit.
Außerdem sind Zuschreibungen wie Armut als eindeutig und ahistorisch ein Problem. Wichtig ist die Wahrnehmung und Deutung. So kann Armut nicht nur Handlungsmöglichkeiten einschränken, sondern auch erweitern, weniger wertend würde man von Verschiebungen sprechen. So gibt es Deutungen von Armut, besonders vor entstehen der protestantischen Arbeitsethik in Europa, die durchaus positiv gedeutet werden. Jetzt kann man einwenden, dass dies nur Bewältigungsmechanismen sind, um die eigene schwache Machtposition zu kompensieren und positiv zu wenden, um (psychisch) überleben zu können aber und das ist der Punkt, eine Lösung darf diese Deutung nicht übersehen. Die Logiken der Akteure müssen Berücksichtigung erfahren. Ihnen ihren selbst und positiv gedeuteten von oben herab zu nehmen, kann ebenso zu negativen Folgen führen, wenn sie z.B. dadurch ihr Seelenheil gefährdet sehen würden. Auch hier darf die Deutung also nicht einfach außer Acht gelassen werden. Jetzt sind das eher Sonderfälle. Aber auch in die andere Richtung geht es. So wurde in der Diskussion um die Arbeitergesundheit im 19. Jahrhundert seitens der Obrigkeit festgestellt, dass die Arbeiter doch gar nicht so arm dran seien, denn mit dem Geld was sie haben, könnten sie die täglich benötigte Menge an Kalorien finanzieren. Hierbei wurde aber übersehen, dass Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme und dass Kalorien eben nicht alles sind, was den Körper am Leben hält. Die rein materielle Frage, die jene Deutungen und Perspektiven unberücksichtigt lässt, lief also am Problem vorbei.
Nehmen wir den schwierigen Fall der absoluten Armut, also eine Armut, die das Überleben beeinträchtigt. Eine solche Armut ist intersubjektiv (nicht objektiv aber dazu später mehr) schlecht und wird wohl niemandem positiv gedeutet. Sie hindert zudem Menschen an Teilhabe und Erfüllung und ist damit aus postmoderner Sicht freilich abzulehnen.
Allerdings ist der theoretische Blick hier anders, denn auch hierbei handelt es sich nicht um eine objektive Wahrheit, sondern um eine intersubjektive, denn um die Folge einer solchen Armut, um die es ja geht, schlecht zu finden, muss eine bestimmte Weltsicht vorhanden sein. Der Tod selbst, um mal einen großartigen Film zu zitieren, ist eine Formalität. Er hat keine Bedeutung, ebenso wenig wie das Leben, abseits der, die wir den beiden Dingen geben. Die Postmoderne benötigt hier aber eben keine absolute Wahrheit, ihr reicht jene intersubjektive, die sie zum Feind absoluter Armut macht, wie auch relativer, denn auch hierdurch sind Teilhabe und Gleichberechtigung, die sie generell anstrebt gefährdet.

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